«Die Digitalisierung bietet die Chance, das eigene Service-Konzept neu zu gestalten»

31.08.2018
2 Min.
Ist der Hype um Industrie 4.0 abgeklungen? Wie können sich KMU fit machen für die digitale Zukunft? Dr. Jürg Meierhofer unterrichtet und forscht an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), ist Koordinator der ZHAW Plattform Industrie 4.0 und Leiter der Gruppe «Smart Services» der Data+Service Alliance. 

Die topsoft Fachredaktion hat sich mit Dr. Jürg Meierhofer unterhalten. Hier das Interview:

 

Es scheint, dass es etwas ruhiger geworden ist um das Thema «Industrie 4.0». Stimmt dieser Eindruck? Welche Themen und Trends stehen heute im Vordergrund?

 
In den ersten Jahren des Begriffes «Industrie 4.0» ging es darum, damit eine grundlegend neue Denkweise zu begründen, quasi das Internet in die Fabrik zu bringen. Dabei bestand grosser Bedarf an Wissen, worum es dabei überhaupt geht und wie das die einzelnen Unternehmen betrifft. Dieser grundlegende Informationsbedarf konnte erfolgreich bedient werden.
Heute geht es meines Erachtens darum, konkrete Umsetzungen anzugehen. Visionen sind viele bekannt, aber: Wie geht man das im einzelnen Unternehmen konkret an? Womit startet man? In welchen Schritten man geht man vor? Welche Kompetenzen braucht ein Unternehmen intern, welche nicht? Das sind nach wie vor sehr aktuelle Fragen, auf die gute Antworten gesucht sind.

 

Inwieweit lassen sich bewährte Beschaffungs-, Produktions- und Distributionskonzepte wie Kanban, Just-in-time, Lean-Management usw. mit Industrie 4.0 vereinbaren?

 

Diese Konzepte lassen sich sehr gut mit Industrie 4.0 vereinbaren. Sie liefern quasi die Grundlage für schlank gestaltete Prozesse, welche ohne Verschwendung am Kundennutzen orientiert sind. Die Digitalisierung bietet nun eine technische Möglichkeit, diese bestehenden Konzepte effizient umzusetzen. Man kann es auch so sehen: Digitalisierung bestehender Strukturen und Prozesse ohne vorangehende Prozessumgestaltung würde am Potenzial vorbeizielen. Nicht optimierte Prozesse wären dann einfach digitalisierte nicht optimierte Prozesse.

 

Warum würden Sie einem KMU empfehlen, sich mit Industrie 4.0 auseinanderzusetzen? Welche Argumente und Vorteile führen Sie ins Feld?

 

Nun, es gibt im Prinzip zwei gute Gründe: einerseits bietet das Thema Industrie 4.0 die Chance, bestehende Prozesse zu hinterfragen und zu verbessern. Andererseits, und das liegt mir sehr am Herzen, bietet die Digitalisierung die Chance, das eigene Service-Konzept grundlegend neu zu gestalten. Noch viel zu oft wird Service einfach als After-Sales Service verstanden. Neuartige Service Konzepte bieten da aber viel mehr Möglichkeiten und können durch die Digitalisierung sehr effizient unterstützt werden.

 

Wie lassen sich bestehende Produktionsanlagen eines KMU aufrüsten für Industrie 4.0? Lohnt sich das überhaupt oder empfehlen Sie einen kompletten Neuanfang?

 

Ein kompletter Neuanfang ist ja in den meisten Fällen keine Option. Es geht also praktisch immer darum, ein bestehendes System weiter zu entwickeln, was sehr wohl möglich ist. Es ist durchaus empfehlenswert, etwas Zeit in das «Big Picture» zu investieren und eine Strategie zu entwickeln, aber nicht zu lange.
Wirklich greifbar wird Industrie 4.0, wenn man «hands-on» beginnt und erste Schritte wagt. Das kann im Kleinen geschehen, z.B. indem man eine Maschine mit einem aufgesetzten Sensor versieht und z.B. deren Geräusche oder Vibrationen misst und dabei das Verständnis für das Gerät weiterentwickelt. Man spricht dabei auch von explorativem Vorgehen.

 

Technologie ist die eine Seite, doch am Ende geht es immer ums Geschäft. Wie lassen sich mit Industrie 4.0 neue Services, Produkte und Businessmodelle schaffen, welche einen Mehrwert für Kunden und Unternehmen bieten?

 

Diese Frage zielt in den Kern des Kunden- und Service-orientierten Ansatzes, den wir konsequent verfolgen. Es geht zu allererst darum, die Prozesse der Kunden und Anwender zu verstehen, insbesondere auch, wo diese noch nicht optimal laufen. Dabei hilft oft ein Aussenblick, denn sub-optimale Abläufe schleifen sich gerne über die Jahre ein und werden hingenommen (man spricht im Service Engineering auch von sog. «hidden pains»). Darauf aufbauend lassen sich dann neue Services und Produkte gezielt gestalten. Die notwendige Technologie und Digitalisierung sind dann eine Folge davon.

 

Wie bei allen digitalen Systemen gilt dem Schutz und der Sicherheit von Daten ein besonderes Augenmerk. Wie gross ist das Risiko für ein Unternehmen, wenn es auf intelligente Fertigungstechnologien setzt?

 

Diese Frage ist sehr wichtig und muss in jedem Fall einzeln beurteilt und beantwortet werden. Grundsätzlich gilt natürlich, dass es die absolute Sicherheit nie gibt. Umso wichtiger ist, dass die Kunden und Anwender durch das explorative Vorgehen auch Schritte von limitiertem Risiko eingehen und in jedem dieser Schritte lernen, welche Vorzüge und Nutzen sich daraus ergeben. Diese müssen dann in einem guten Verhältnis zu den Risiken stehen.

 

Welche Auswirkungen hat die Digitalisierung im Sinne von Industrie 4.0 auf Service- und Dienstleistungsbetriebe in der Schweiz?

 

In der konsequenten Anwendung der Service-Logik (auch «Service Dominant Logic» genannt) spielt die Unterscheidung zwischen Produkt und Service keine grosse Rolle. Produzierende Unternehmen sind bestrebt, ihre Kunden möglichst umfassend und End-zu-End zu unterstützen und setzen dabei ihre Produkte ein.
Rund um die Produkte braucht es aber einen Service-Prozess, welcher die kontinuierliche Zusammenarbeit mit dem Kunden gestaltet und sich dabei digitaler Werkzeuge bedient. Die Produkte sind als Träger und Übermittler der Service-Werte nach wie vor von grosser Bedeutung, müssen sich aber an diesen Werten ausrichten. Diese Betrachtungsweise gilt gleichermassen für Service- und Dienstleistungsbetriebe. Industrie 4.0 und Digitalisierung haben also auch auf diese Branchen grosse Auswirkungen.

 

Was könnte ich tun, wenn ich mich intensiver mit dem Thema Industrie 4.0 auseinandersetzen möchte? Gibt es Ausbildungs- und Beratungsmöglichkeiten?

 

Ja, da gibt es eine grosse Fülle von Angeboten. Es gibt viele Seminare und Workshops zum Thema. An diversen Schulen existieren gezielte Weiterbildungsangebote. So haben wir an der ZHAW erfolgreich den «CAS Industrie 4.0 – von der Idee zur Umsetzung» lanciert. Auch mit dem sehr gut besuchten «MAS Data Science» (bestehend aus mehreren CAS Modulen) zielen wir in diese Richtung. Das Wissen dazu wird u.a. in angewandten Forschungsprojekten zusammen mit der Industrie erarbeitet. Die ZHAW ist z.B. u.a. im Rahmen des IBH-Labs KMUdigital (www.kmu-digital.eu) in diverse relevante Projekte in diesem Bereich involviert. Zudem gibt es eine breite Basis an Angeboten von Beratungsunternehmen.

 

Wie sehen Sie die weitere Entwicklung von Industrie 4.0? Wo stehen wir heute in einem Jahr?

 

Wir werden uns weiter in Richtung Umsetzung und konkrete Anwendungen und Lernschritte bewegen. Das Thema geht verstärkt in den operativen Alltag von Firmen über, sei es in der Entwicklung oder im Betrieb. Zentral wird die Frage, welches die möglichen nächsten Schritte für ein Unternehmen sind auf dem Weg der Digitalisierung. Ob sie ein Unternehmen betrifft, ist nicht mehr die Frage. Das Thema hat für alle eine hohe Relevanz.

Besten Dank für das Gespräch.