E-Commerce heisst nicht mehr, Produkte online verkaufen. Gefragt sind gesamtheitliche Beratungs- und Lösungsansätze, Denken in Service- und Ökosystemen und Konzepten, die nicht mehr an Desktop-Browser und Smartphones gebunden sind. Und vor allem, die Sicht des Kunden in all seinen Facetten jederzeit einnehmen und sich nicht von internen Sachzwängen einschränken lassen. Die Herausforderungen 2017 im E-Commerce könnten vielfältiger nicht sein.

 

Der Anteil an Waren, die an Endverbraucher (B2C) online verkauft wurden, kletterte 2015 in der Schweiz auf 14% im Non-Food Bereich. Die Zahlen für 2016 dürften eine noch deutlichere Sprache sprechen. Und dies notabene über alle Branchen hinweg – und dabei sind wir bei einzelnen Sortimenten schon nahe der 50% Marke (Bücher, Filme, Musik etc.) oder bei Heim-Elektronik bei einem knappen Drittel aller Verkäufe, die digital abgewickelt werden. Noch eher tief sind die Quoten in Branchen wie Do-It/Baumarkt, Beauty, Spielwaren oder auch Schmuck und Uhren – noch.

Die Geschichte hat uns in vielen, auch technologischen, Entwicklungen gelehrt, dass bis eine Marktpenetration von 10 – 15% erreicht wird, es eher zaghaft vonstattengeht. Dann jedoch ein wahrer Dammbruch stattfinden kann. Daher erstaunt es wenig, dass verschiedene Experten – von Detailhändlern über Logistikern bis hin zu Immobilien – Onlineanteile zwischen 25 und 33% in den kommenden Jahren erwarten. Carpathia und ich inklusive.

Und dabei noch nicht mal eingerechnet sind die über 40% der stationären Käufe, die online vorbereitet werden. An einer professionellen digitalen Vertriebsplattform kommt heute niemand mehr vorbei, auch wenn es nicht mal um den reinen Verkauf geht. Denn «Digital» ist keine weitere Filiale, sondern das grösste Schaufenster für Händler und Dienstleister, das es je gegeben hat. Und das stellt besonders hohe Herausforderungen an Strategie und Konzeption wie auch Umsetzung und Betrieb.

Lösungen, nicht Produkte sind gefragt

Der Grossteil der Schweizer Onlineshops vertreibt Produkte online und wundert sich, dass sie langsamer als der Markt wachsen und ständig an Marktanteilen verlieren. Produkte online verkaufen, kann heute jeder. Dazu braucht es nicht viel. Die benötigten technischen Komponenten sind meist frei am Markt erhältlich, die Produkte können gesourced werden und für Payment und Logistik stehen die Dienstleister in Reih und Glied bereit.

Viele Konzepte, die wir prüfen dürfen, vergessen schlicht und ergreifend immer wieder den Kunden. Wenige machen sich Gedanken, an wen genau sie ihr Angebot adressieren, in welchen Momenten sie die Zielgruppe erreichen und welche Probleme sie ihnen lösen wollen. Anbieter wollen a priori online Produkte verkaufen und gelangen damit in die Preisspirale die nur eine Richtung kennt: nach unten.

Vergleichbarkeit von Konditionen, Verfügbarkeiten und Lieferfristen sind an der Tagesordnung. Wer nicht über das nötige Volumen verfügt, ist schneller weg vom Fenster, als er oder sie sich das vorgestellt hat.

Wenn Kunden lediglich nur ein Produkt online kaufen wollen – ja das gibt es auch –, dann werden sie zum günstigsten Anbieter gehen, der das Produkt am schnellsten kostenfrei liefert. Ganz einfach. Mit Schweizer Kostenstrukturen da international mithalten zu wollen, grenzt schon an ein Wunder.

Eine Vielzahl der Kunden sucht jedoch nicht ein Produkt, sondern eine Lösung. Eine Lösung, um beispielsweise ein schweres Bild an einer Betonwand zu befestigen, und nicht die Suche nach einem Bohrhammer, einem Satz Dübel und entsprechenden Schrauben. Kundinnen suchen nicht ein Cocktail-Kleid von Chi Chi London, Schuhe von Högl und eine Tasche von Valentino, sondern wollen toll aussehen am nächsten Gala-Dinner.

Es gilt dabei, die Kompetenz und Beratung in den digitalen Kanal zu transformieren und nicht einen online Zugang zum Warenlager zu ermöglichen.

Denken in Ökosystemen, Plattformen und Marktplätzen

Doch bei der Beratung und der Vermittlung von Lösungen hört es noch lange nicht auf. Das Denken in Ökosystemen geht dabei in eine ähnliche Richtung, wenn auch mit Fokus auf Technologie und Prozesse.

Eine professionelle und erfolgreiche E-Commerce Plattform zu betreiben, ist nicht nur aufwändig, sondern mit erheblichen Ressourcen verbunden. Warum diese also nur für diesen einen Zweck nutzen und nicht anderweitig profitieren oder für Dritte öffnen?

Warum eigene Kompetenzen verschiedenster Art nicht intelligent monetarisieren und mit Services ebenfalls Erträge generieren, sei es im Category-Management mit erstklassigem Content und Konditionen, sei es mit wegweisenden technischen Innovationen und atemberaubenden Skalierungsmöglichkeiten, sei es mit hocheffizienten und modularen Prozessen oder Marketing/Kommunikation, die ihresgleichen suchen.

Ein Blick auf die führenden Player reicht. Amazon ist schon lange ein Ökoystem für sich. Es hat von Beginn weg verstanden, seine Kernkompetenzen, welche Amazon absolut beherrscht, in Services zu wandeln und für Dritte zu öffnen. Dies gilt für das Handelsgeschäft mit den Marktplätzen, für die Logistik mit den Fulfillment-Dienstleistungen bis hin zur Technologie wo im Bereich von Rechen- und Speicherleistung Massstäbe gesetzt wurden.

Auch Zalando wird zum Ökosystem und fokussiert unter anderem auf seine Brand-Solutions, währenddessen ein AboutYou aus dem deutschen Otto-Konzern seine Systeme für Dritte öffnete, ganz im Sinne von Open Data.

Auch in der Schweiz sind wegweisende Lösungen in Betrieb. Galaxus, das sich zunehmend zum Warenhaus entwickelt und dabei von interessanten Wachstumseffekten profitieren kann. Die Ex Libris, deren Whitelabel-Lösungen zahlreiche Schweizer Plattformen mit Medien bedient und dabei ihre eigenen hocheffizienten Einkaufs- und Logistikprozesse skalieren kann. Coop und Swisscom, die zusammen Siroop lancierten und sowohl kulturell wie auch technologisch und kommunikativ neue Massstäbe setzen.

Oder auch Brack.ch, wo man die eigene Infrastruktur und Prozesse derart beherrscht, dass man sich nun zum E-Commerce Enabler entwickelt. So wird Brack für Intersport die gesamte E-Commerce Logistik wie auch Vertriebsplattform betreiben, basierend auf den eigenen Systemen und Prozessen.

Diese Beispiele haben alle einen gemeinsamen Nenner: Man ruht sich nicht auf dem eigenen Erfolg aus, sondern versucht, die erworbenen Kernkompetenzen und Wettbewerbsvorteile zu monetarisieren und für Dritte zu öffnen. Dass man dabei seine eigene Rolle weiter stärkt, liegt auf der Hand.

Everywhere Commerce

Heutige E-Commerce Modelle konzentrieren immer noch zu stark auf den Desktop-Browser. Erfolgreiche mobile Konzepte sind nicht nur in der Schweiz noch äusserst rar, bieten aber ungeahnte Möglichkeiten.

Doch auch die Fokussierung auf Smartphones als Bestell-Devices greift zu kurz. Vielmehr muss man sich öffnen – B2C und B2B – und ganz klar auf die Situationen, Orte und Optionen konzentrieren, wo ein Bedarf entstehen und sogleich eine Bestellung erfolgen kann.

Die Lancierung der Amazon Dash-Buttons vor rund 2 Jahren in den USA (seit Sommer 2016 auch in Deutschland verfügbar) und kurz darauf von Amazon-Echo zeigt, wohin die Reise gehen wird. Orders werden dort registriert, wo der Bedarf entsteht. Übrigens etwas, was führende B2B-Händler auch in der Schweiz schon lange sehr erfolgreich im Einsatz haben.

Aber auch hier steht der Verkauf von Produkten, die Deckung eines Bedarfs oder die Bevorratung eines Lagers nicht alleine im Mittelpunkt. Ebenso wegweisend sind die Interaktionsmöglichkeiten mit den Geräten neuster Art. Sind es bei Low-Interest-Produkten im Haushalt oder C-Teilen im Grosshandel einfachste Gesten wie das Drücken auf einen Knopf für die Nachbestellung von Toiletten-Papier, Waschmittel, Rasierklingen oder neuen Dichtungsringen, Schrauben oder Distanzhaltern. Für die Beratung rückt vermehrt die Stimme und die Konversation mit einer Maschine in den Vordergrund.

Hat Apple hier mit Siri seine ersten Gehversuche auf den Smartphones vollzogen, ist Alexa auf Amazons Echo-Geräten schon eine ganz andere Liga an sogenannten Voice-Control Devices. Dasselbe gilt für Google Home, die zusammen schon fast eine ganz natürliche Konversation erlauben. Die Möglichkeiten dabei sind unbegrenzt und erstrecken sich schon heute von Small-Talk über Nachforschungen, Tipps, Auskunft zu Börse-Wetter-Verkehr bis hin zu Beratung und eben Einkaufen. Kurze Stimmbefehle wie „Alexa, bitte noch Toilettenpapier in den Einkaufswagen legen“ dürften demnächst so natürlich sein wie früher mit dem Bleistift die traditionelle „Poschti-Liste“ zu vervollständigen.

The Winner takes it all

Haben wir überhaupt noch eine Chance gegen diese internationalen übermächtigen Mitbewerber und Technologiekonzerne? Die Frage ist berechtigt und stellt gleichzeitig eine der grössten Herausforderungen im E-Commerce ohnehin dar. Denn die Sache mit dem Heimatschutz im Onlinehandel ist schon lange passé.

Währung, Zoll und Sprache stellen kaum noch ein Hindernis dar für internationale Händler wie auch der Schweizer Onlinekunde wenig Berührungsängste hat, seinen Bedarf im Ausland zu decken. Sei dies in den unmittelbaren Nachbarländern wo mit Zalando der Angstgegner der heimischen Modehändler seine Basis hat oder auch in Übersee im Heimatland von Amazon. Und nicht weniger relevant ist das Reich der Mitte, von wo Päckli mit chinesischen Absendern seit Monaten die Schweizer Logistiker fluten und mit exponentiellen Zuwachsraten auf Trab halten.

Ja, the winner takes it all und es wird schwierig für Schweizer Händler, hier mitzuhalten. Und wer sich ohnehin nur auf den Handel konzentriert – unabhängig ob online oder nur stationär – ob B2C oder B2B – dürfte sich über kurz oder lang eine neue Daseinsberechtigung suchen müssen.

Denn durch die Digitalisierung wird der Handel regelrecht zerrieben werden. Zerrieben zwischen Herstellern und Endkunden. Zerrieben zwischen internationalen Grosshändlern und Technologie-Giganten.

Und als erstes müssen wohl diejenigen daran glauben, die nach wie vor Produkte und keine Lösungen verkaufen.

10 E-Commerce Empfehlungen 2017

  1. Lösungen statt Produkte
  2. Personalisierung statt Einheitsbrei
  3. Beratungskompetenz statt Warenlager
  4. Aussensicht statt Innensicht
  5. Dialog statt Monolog
  6. Everywhere statt Browser
  7. Marktplätze statt Selbstdarstellung
  8. Ökosysteme und Frameworks statt Isolation und Monolithen
  9. Plattformen statt Abschottung
  10. Voice und Gesten statt Tastatur

 

Carpathia ist die führende neutrale und unabhängige Unternehmensberatung für Digital Business, E-Commerce und Digitale Transformation im Handel.

Unser Team vereint jahrzehntelange Erfahrung in digitalen Vertriebskonzepten, Strategien und Geschäftsprozessen. Über 150 Kunden mit einem konsolidierten Onlineumsatz von mehr als 3 Milliarden Franken vertrauen auf die neutrale Expertise von Carpathia.

Zusammen mit einer breit abgestützten Jury verleiht Carpathia jährlich die Swiss E-Commerce Awards und organisiert die grösste E-Commerce Konferenz der Schweiz. Der Digital.Business.Blog http://blog.carpathia.ch gehört zu den meist gelesenen Blogs zu diesem Thema im deutschsprachigen Europa und Thomas Lang gilt als einer der führenden digitalen Köpfe der Schweiz laut Handelszeitung.

Thomas Lang

Geschäftsführer Carpathia Consulting GmbH, E-Commerce Experte, Dozent, Publizist und gefragter Referent an int. Konferenzen zu Themen rund um Digitalen Handel und Wandel. Spezialist für Strategien, Konzepte und Geschäftsmodelle im Onlinevertrieb, Multi-/Cross-Channel-Handel, MobileCommerce, elektronische Geschäftsprozesse wie auch für Digitale Transformation.