«Es sind die Menschen vor Ort, die Industrie 4.0 aufbauen.»

10.08.2018

Anlässlich der Kundenveranstaltung «Synchrones Produktionssystem und Industrie 4.0» der Bossard AG am 27. März 2018 hatte die topsoft-Fachredaktion Gelegenheit, Hitoshi Takeda, dem weltweit führenden Lean- und Kaizen-Experten, zu treffen.

 

Interview: Christian Bühlmann, Editor in Chief

Mit freundlicher Unterstützung von Bossard AG, www.bossard.com

 

 

 

Herr Takeda, moderne IT-Systeme werden immer autonomer und smarter. Welche Rolle wird der Mensch in den Produktionssystemen der Zukunft noch spielen?

 

Hitoshi Takeda: Heutzutage werden ungefähr 50 bis 80 Prozent der menschlichen Arbeit durch IT ersetzt. Was bleibt dabei wirklich noch für die Menschen zu tun? Über die reine gesellschaftliche Nutzung von IT hinaus müssen AI (künstliche Intelligenz) und IoT (Internet of Things) Werkzeuge sein, die dazu dienen, dem Menschen zu einem glücklichen Leben zu verhelfen. Bei der Betrachtung der zukünftigen Entwicklungen der IT müssen wir gründlich darüber nachdenken, welchen Zustand wir selbst anstreben und was für uns “Glück” bedeutet. 

Die Technik entwickelt sich letztlich ohne unser Zutun. Ohne unser “Zutun” entwickeln wir als Menschen uns jedoch nicht weiter. Damit wir selbst als Menschen glücklich werden können, müssen auch wir uns entsprechend der Entwicklung der IT bewusst verändern. 

Die Technik soll Prozesse und Menschen unterstützen. Sie soll nicht die Führung übernehmen. Die Rolle des Menschen in den Produktionssystemen besteht auch zukünftig darin, “im Mittelpunkt zu stehen, eine langfristige Perspektive einzunehmen und kontinuierlich kreative Innovationen voranzutreiben”.

 

CB: Welche Gefahr besteht, dass die komplexen Überlegungen im Rahmen von Lean Management auf eine rein technologische Betrachtung reduziert werden? Wie kann man dieser Gefahr begegnen?

 

Innerhalb meines «Synchronen Produktionssystems» steht die Humanware an erster Stelle:

  1. Seine Basis bilden die Wertschätzung des Menschen und der Menschlichkeit. Es geht um die maximale Wertschätzung der geistigen Fähigkeiten des Menschen. Man muss den Menschen für wichtig erachten.
  2. Es gilt, genau hinzuschauen und gute, intelligente Lösungen und Ideen zu entwickeln. Ist der Blick nicht geschärft, kommen keine intelligenten Lösungen, und man muss Geld in die Hand nehmen…

 

Erst danach kommt die Software. Wichtig ist es, ein Konzept zu haben:

  1. Arbeit = Standard-Arbeitsabläufe + Verbessern. Verbessern ist ein Teil der Arbeit.
  2. Gründliches visuelles Management. Die Abläufe müssen auch für Aussenstehende ersichtlich sein.
  3. Bei Störungen sofort die Linie anhalten (entsprechende Strukturen schaffen) und nachhaltige Massnahmen einleiten.

 

Am Ende kommt die Hardware: nivellierte und geglättete Fertigung, Einzelstück- (Einzelsatz-) Fluss, IT, IoT, AI.

Folgendes möchte ich betonen: Es ist notwendig, tiefgründiger und langfristiger über Humanware und Software nachzudenken

 

CB: Wie lassen sich die Erkenntnisse Ihres Buchs "Das synchrone Produktionssystem" mit dem Konzept von Industrie 4.0 verbinden? Wo sehen Sie Gemeinsamkeiten und wo Unterschiede?

 Mein “Synchrones Produktionssystem” (SPS) bildet die Grundlage. Auf dieser baut Industrie 4.0 auf. Ist diese Grundlage nicht vorhanden, wird es schwierig, Industrie 4.0 einzuführen. Das bedeutet konkret, dass mit Industrie 4.0 die Digitalisierung der Fertigungsprozesse, d.h. bei SPS visuelles Management, die Automatisierung bzw. bei SPS die intelligente Automatisierung und die Virtualisierung – bei SPS das Streben nach dem perfekten Prozess – auf ein im Vergleich zu heute noch deutlich höheres Niveau gehoben und dadurch eine extreme Kostensenkung angestrebt wird. SPS strebt nach sicheren Lieferzeiten, Qualitätserzeugung im Prozess, Steigerung der Mitarbeiter-Produktivität, Mitarbeiter-Schulung. Wichtig ist dabei die Entwicklung intelligenter Fabriken, also selbst denkender Fabriken. Bei SPS konzentrieren wir uns darauf, die Zahl der Mitarbeiter zu erhöhen, die ständig und eigenständig denken.

Es sind die Menschen vor Ort, die Industrie 4.0 aufbauen. Das Grundkonzept, die Basis stimmt mit SPS überein. Das was hinzukommt – IT, IoT und AI – machen, wenn Sie so wollen, den Unterschied aus.

 

Die Schweiz verliert als Industrie- und Produktionsstandort zunehmend an Bedeutung. Wie könnte Lean Management und synchrone Produktionssysteme helfen, die Situation zu verbessern?

Ich bin überzeugt davon, dass die Schweizer wettbewerbsfähige Lösungen finden und umsetzen. Sie befinden sich im Vergleich zu anderen Ländern in einer vorteilhaften Position. Wenn die KMU in ihrer Rolle als Fundament dieses Industrie- und Produktionsstandorts ihre Aktivitäten zur Einführung von Lean Management und Synchronem Produktionssystem gründlich angehen, so können sie ihre Wettbewerbsfähigkeit und Flexibilität enorm steigern.

Wichtig bei SPS ist es, dass das Ziel nicht in einer Effizienzsteigerung besteht. Das Ziel besteht darin, aus Kundenperspektive tiefgründig nachzudenken. Darüber hinaus ist eine gründliche Verkürzung der Durchlaufzeit von der Kundenanfrage über Angebotserstellung, Fertigungsplanung, Fertigung, Logistik bis zur Auslieferung verlangt. Ich denke, dass darauf basierende Marketing-Aktivitäten und Innovationen unverzichtbar sind. Innovation lässt sich nur erzielen, indem man kontinuierlich verbessert, verbessert, verbessert…

 

In welchen Bereichen tun sich die meisten Unternehmen bei der Umsetzung von Lean Management schwer?

 

Firmen tun sich in zwei Bereichen schwer. Erstens, fragen sich Leute, welche die gute wirtschaftliche Lage fühlen: “Aber wir machen doch im jetzigen Zustand steigende Gewinne… warum müssen wir etwas verändern? Macht diese SPS-Lean-Vorgehensweise wirklich Sinn?“ Beim Ausrollen von SPS braucht es Zeit, die momentane Firmenkultur zu verändern. Heutzutage verändert sich die Welt rasend schnell. Wenn eine Firma sich nicht entsprechend schnell, nein, noch schneller verändert, wird sie nicht in der Lage sein, dem Kunden attraktive Angebote zu machen und innovative Lösungen anzubieten. Ausserdem geht es darum, durch das Umsetzen von Verbesserungen die nächsten Schritte aufzuzeigen und Veränderung spürbar zu machen.

Der zweite Bereich besteht darin, dass man die ersten drei Jahre nach Einführung des Systems keine Ergebnisse erwarten darf. In den ersten ein bis zwei Jahren entstehen Kosten für die Veränderungen; Schulungen, Verbesserungen, Reformen verbrauchen jeweils Zeit. Deshalb entsteht bisweilen der Eindruck eines Rückschritts. Ist diese Phase jedoch überwunden, dann verbessert sich die Firmenverfassung sprunghaft. Viele Firmen können diese Phase nicht aushalten.

 

Vielen Dank, Herr Takeda, dass Sie sich Zeit für unser Gespräch genommen haben.

 

Anlässlich der Kundenveranstaltung "Synchrones Produktionssystem und Industrie 4.0" der Bossard AGA am 27. März 2018 hatte die topsoft Fachredaktion Gelgenheit, Hitoshi Takeda, dem weltweit führenden Lean- und Kaizen-Experten zu treffen.

Wir danken der Bossard AG für die freundliche Unterstützung.

www.bossard.com