Das Thema «Industrie 4.0» ist bei den Unternehmen des Werkplatzes Schweiz angekommen. Allerdings sehr unterschiedlich. Wo einige Grossunternehmen bereits über Projekte und Teams verfügen, sehen sich KMU gefordert, überhaupt mit dem Tempo Schritt zu halten. Dabei sind weniger die personellen und finanziellen Ressourcen entscheidend, sondern die Bereitschaft, sich auf den neuen Weg einzulassen.

Mit Industrie 4.0 verbinden viele KMU die Notwendigkeit grosser personeller und finanzieller Ressourcen. Als Konsequenz werden entsprechende Vorhaben auf die lange Bank geschoben und dem Tagesgeschäft den Vorrang gegeben. Dabei liesse sich bereits mit einfachen Schritte eine grosse Wirkung erzielen, um die Geschäftsentwicklung mit Industrie 4.0 voranzutreiben. Notwendig sind Schritte, die zuerst auf das eigene Wissen und die Kultur in der Unternehmung zielen. Solange in den Organisationen die «Digitalisierung» skeptisch oder mit Ängsten betrachtet wird, macht das Aufsetzen eines Projektes nur wenig Sinn. Die Bereitschaft aller Ebenen, sich auf die Digitalisierung einzulassen und mindestens erste Gehversuche zu wagen, ebnet den Weg für Veränderungen im Sinne des Erhalts und der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit. Doch wie soll das gehen?

Den Weg bereiten und Dringlichkeit vermitteln

Am Anfang stehen das Wissen und die Bereitschaft, sich auf Veränderungen einzulassen. Genauer gesagt: Durch das Erarbeiten von Wissen und den Erfahrungsaustausch mit anderen Unternehmen entsteht ein klarer, auf die Bedürfnisse der eigenen Firma zugeschnittener Blick auf Industrie 4.0. Das inspiriert, macht Chancen sichtbar und lässt erste Visionen entstehen. Um schnell und konkret an Wissen und Erfahrungen heranzukommen bietet sich hier beispielsweise die Initiative «Industrie 2025» an mit Seminaren, Anlässen, Arbeitsgruppen und Experten.

Allerdings, ohne die nötige Dringlichkeit bewegt sich nichts. Diese muss von der obersten Führung kommen. Doch mit welcher Begründung? Dazu zwei Vorschläge: Hat sich der Betrieb ungeachtet seiner Grösse bislang noch nicht systematisch strukturiert mit dem Thema Industrie 4.0 auseinandergesetzt, kann die Dringlichkeit alleine auf diesem Mangel begründet werden. Als zweite Möglichkeit (oder um die erste zu verstärken) muss mit Bezug auf die Unternehmung die möglichen Auswirkungen einer höhergradigen digitalen Wirtschaft aufzeigt werden. Dies am besten durch einen externen Experten, der einen unabhängigen Blickwinkel einbringt. Daraus ergibt sich die Dringlichkeit meist automatisch, weil die Nachhaltigkeit des aktuellen Geschäftsmodells oft in Frage gestellt wird. In dieser Startphase sind besonders Führungskräfte vom Lernprozess betroffen. Zur Führung gehören die Geschäftsleitung sowie Schlüsselpersonen aus F&E, HR, Supply Chain, Produktion, Vertrieb und Marketing. Bei Kleinunternehmen mögen einige dieser Funktionen in Personalunion erscheinen. Das kann zwar Vieles vereinfachen, aber auch zu hoher Belastung führen. Die letzte Gruppe in den Unternehmen, die unbedingt auf die Reise mitgenommen werden muss (oder sogar Reiseleiter sein können), sind Verwaltungsräte oder Gesellschafter. Zu Ihren Hauptaufgaben gehören der Erhalt und die Weiterentwicklung der Unternehmung auf strategischer Ebene. Ergo gehört Industrie 4.0 auch dazu.

Oft entsteht an dieser Stelle des Prozesses die Forderung aus den eigenen Reihen, eine Vision und Strategie für Industrie 4.0 zu formulieren. Ein erster, einfacher Wurf kann durchaus Sinn machen. Die Organisation ist aber immer noch im Lernmodus für Grundlagen. Deshalb sind in diesem Moment kleinere und unkomplizierte Projekte, in denen interdisziplinär zusammengearbeitet wird, empfehlenswert. Ein professionelles Projektmanagement unterstreicht die Ernsthaftigkeit des Tuns. Bei Kleinstunternehmen reicht eine Flipchart mitten im Büro, um Digitalisierungs-Projekte sichtbar zu verwalten.  Unabhängig von der Firmengrösse gilt, dass Ziele, Resultate und Erfahrungen aus den Projekten breit diskutiert werden müssen. Damit wird weiter gelernt und mögliche Ängste werden abgebaut. Nun ist die Zeit auch reif, sich mit einer Vision zu befassen und darzustellen, wie die eigene Unternehmung mit integrierten Industrie 4.0-Konzepten aussehen könnte. Worauf ist dabei besonders zu achten?

Welche Werte biete ich meinen Kunden?

Es ist sinnvoll, Digitalisierungskonzepte schrittweise und gezielt für Prozessverbesserungen einzusetzen. So lässt sich praxisbezogenes Wissen über Industrie 4.0 aufbauen. Voraussetzung für die Digitalisierung ist eine hohe Prozessexzellenz. Ansonsten entsteht das Risiko, die Ressourceneffizienz zu senken statt zu steigern. Die Auseinandersetzung mit den eigenen Prozessen muss im nächsten Schritt dazu führen, das gewonnene Wissen auf die Prozesse der eigenen Kunden zu transferieren. In vielen Fällen geht das problemlos und ermöglicht erste Vorstellungen, welches Wertangebot der Kunde künftig nachfragen könnte. Mit diesem Schritt steht der Prozess mitten in der Produktinnovation. Die Auseinandersetzung mit dem Kunden und dem Kunden des Kunden kann zu gänzlich neuen Erkenntnissen führen, welche wiederum neue Produkte und Dienstleistungen hervorrufen können. Diese Diskussion sollte möglichst früh geführt werden und gehört in den regelmässigen Prozess der Unternehmensplanung. Überstürztes Handeln ist hier fehl am Platz. Die Überlegungen zu einem möglichen, künftigen Geschäftsmodell bringen ganze Teams dazu, sich Gedanken darüber zu machen, wie neue Einnahmequellen erschlossen werden können und wie diese das heutige Schaffen beeinflussen. So können Visionen formuliert werden und ersten Ergänzungen zur Unternehmensstrategie erfolgen.

Ist die Organisation hier angelangt, hat sie einen hohen Reifegrad im systematischen Umgang mit der eigenen Entwicklung unter Einbezug von Industrie 4.0 erreicht. Je nach Grösse kann sie nun selbständig ihre Prozesse, Produkte und Services weiterentwickeln oder bei Bedarf einen externen Berater beiziehen.

Industrie 4.0 ist Veränderungsmanagement

Die beschriebenen Schritte machen deutlich, dass nicht Technologien über den Erfolg entscheiden. Die gesamte Organisation muss bereit sein, sich mit den langfristigen Wechselwirkungen zwischen neuen Technologien und Kundenbedürfnissen auseinanderzusetzen. Die Projektion des eigenen Geschäfts in die Zukunft ist komplexer geworden. Der digitale Einfluss auf den Menschen, die Gesellschaft und die Wirtschaft kann nicht basierend auf einfachen, bekannten Regeln vorausgesehen werden. Deshalb ist viel mehr unternehmerischer Mut und gemeinsames Erkunden als bisher erforderlich. Das bedeutet, dass der erfolgreiche Weg immer stärker zu einer Kultur-  und Führungsfrage wird. Eine stark hierarchische Organisation mit viel Rangautorität wird die notwendige Offenheit nicht haben; Vorurteile und Regeldenken behindern das gemeinsame Lernen und Innovieren. Gerade weil es bei Industrie 4.0 immer mehr um Kultur und Führung geht, haben Klein- und Mittelbetriebe mindestens theoretisch gleich lange Spiesse wie Grossbetriebe, auch wenn dort rein numerisch mehr Ressourcen eingesetzt werden können. Es hängt jedoch immer davon ab, inwieweit sich die Führung auf Experimente einlassen will, deren Ausgang nicht per se voraussehbar ist. Heute geht es nicht mehr um «Der Kunde braucht X also produzieren wir X», sondern vereinfacht um: «Wenn der Kunde heute X benutzt und mit Y kombiniert, was hat das für einen Einfluss auf sein künftiges Verhalten? Und wie können wir daraus einen Nutzen ziehen?».

Wissensaufbau muss Raum für Neugierde bieten. Das Experiment mit ungewissem Ausgang steht anstelle des Projekts mit vorausberechnetem diskontiertem ROI. «Scheitern» muss als Lerninhalt und Ansporn für den nächsten Versuch verstanden werden. So setzt sich die Organisation selber in die Lage, trotz der neuen Komplexität einen erfolgreichen Weg in die Zukunft zu bahnen. Für KMU ist weniger die Grösse entscheidend als die Frage, ob man bereit ist und sich befähigen will, sich auf diesen neuen Weg einzulassen.

 

Der Autor

René Brugger ist Präsident des Swiss Technology Networks, einem der Gründungsverbände der Initiative «Industrie 2025». Mit seiner Erfahrung in der Führung von mittleren und grösseren Unternehmen unterstützt er Firmen, auf ihrem individuellen Weg zu Industrie 4.0 pragmatisch starten zu können.