Kundenindividuelle Produkte, komplexe Auftragsstrukturen und mehrmonatige Durchlaufzeiten sind typische Eigenschaften der Projektfertigung. Bei der Kundeneinzelfertigung oder diskreten Fertigung – der Begriff geht zurück auf das lateinische Wort „discretio“ für Trennung, Unterscheidung und bezieht sich auf einzeln zählbare Mengen – wird jedem Kundenauftrag ein eigenes Projekt zugeordnet. Da die damit verbundenen Endprodukte im Maschinen-, Anlagen- und Apparatebau häufig aus mehreren Baugruppen bestehen, ist die Herstellung vergleichbar mit einem Projekt: Zeit, Budget, Material und Ressourcen setzen die Rahmenbedingungen. Zusätzlich zur komplexen Abhängigkeiten dieser Faktoren bewirken laufende Veränderungen eine Projektdynamik, welche sich meistens nur noch mit geeigneter Business Software bewältigen lässt. Entsprechende Lösungen für die Projektfertigung unterstützen die Planung und Verwaltung von Kosten, Material und Ressourcen, sorgen für Transparenz und erhöhen die Projektqualität. Dank spezifischer Funktionen ermöglicht Software für die projektorientierte Fertigung, dass die Ziele erreicht werden und das Projekt nicht aus dem Ruder läuft.

Engineering

Im Mittelpunkt der Ingenieursleistung steht die Entwicklung der technischen Spezifikationen und Strukturen des gewünschten Kundenprodukts. Die Grundlagen dazu bilden technische Zeichnungen, Materialdefinitionen, Stücklisten, Arbeitspläne und Projektplanungsdaten. Häufig erfolgt in dieser Phase ein Zusammenspiel zwischen CAD-Zeichnungssystemen und ERP-Systemen. Durch die Integrationsmöglichkeiten moderner Anwendungen können heute die Daten ohne Redundanz in beiden Bereichen verwendet oder zumindest eingesehen werden. Da sich diese Daten während der gesamten Projektdauer verändern können, ist eine automatisierte Aktualisierung und Plausibilisierung der Datenbestände notwendig.

Projektplanung

Als erster Schritt wird das Projekt nach technischen und organisatorischen Aspekten strukturiert. Im so genannten Projektstrukturplan wird das gesamte Vorhaben in plan- und kontrollierbare Einheiten heruntergebrochen. Diese bestehen aus Teilprojekten und Arbeitspaketen. Der Projektstrukturplan ist die Grundlage für die Planung der Termine, Kosten und Ressourcen – und somit quasi die Mutter aller Pläne. Ausgehend vom Projektstrukturplan erfolgt der Übergang zur Ablauf- und Terminplanung. In der Praxis werden dabei oft bestehende Projekte mit ähnlichen Strukturen als Kopiervorlage verwendet. Das Kopieren von Projekten spart viel Zeit und ist dadurch eine unverzichtbare Funktion bei der Anwendung entsprechender Business Software. Sobald alle Teilprojekte und Arbeitspakete erfasst sind, erfolgt die Projektterminierung, wobei zwischen Vorwärtsterminierung (ausgehend vom Startpunkt) oder Rückwärtsterminierung (ausgehend vom Endtermin) unterschieden wird. Häufig sind im Anschluss daran noch gewisse „Glättungsmassnahmen“ erforderlich, z.B. um Durchlaufzeiten zu optimieren. Ist die Terminierung abgeschlossen, werden die entsprechenden Arbeitsaufträge in die Kapazitätsplanung eingetragen. Moderne Lösungen bieten grafische Darstellungsmöglichkeiten, um allfällige Kapazitätsüberlastungen sofort aufzuzeigen und bieten entsprechende Interventionsmöglichkeiten wie Abgleich- und Ausweichfunktionen. Erst jetzt, nachdem die Planung aufgrund der verfügbaren Kapazität einen realistischen Termin ergeben hat, wird in der Regel der Endtermin mit dem Kunden vereinbart und damit der Auftrag freigegeben.


Wenn die Projektfertigung Dimensionen sprengt: Die von Marti Technik AG erstellte Tunnelbohrmaschine hat einen Durchmesser von fast zehn Metern und ist über eine 5,5 Kilometer lange Förderbandanlage mit einem Kieswerk verbunden. Das Projektvolumen umfasste 50 Millionen Schweizer Franken und hat eine Laufzeit von sechs Jahren (Quelle: Fallstudie ams-erp unter www.it-konkret.ch).

Materialbedarf und Feinplanung

Sobald die Auftragserteilung erfolgt ist, muss das benötigte Material zeitgerecht zur Verfügung gestellt werden. Die Materialbedarfsplanung gehört zu den „Königsdisziplinen“ eines ERP-Systems (beim Begriff „Enterprise Resource Planning“ ist der Name wortwörtlich Programm). Da einige Produkte oder Baugruppen unter Umständen lange Beschaffungszeiten haben, muss die Beschaffung rechtzeitig erfolgen und laufend überwacht werden. Bei der Verwendung von Baugruppen müssen die damit verbundenen Materialstücklisten aufgelöst und bei der Beschaffung berücksichtigt werden. Das Fehlen einer einzelnen Unterkomponente kann unter Umständen die Fertigstellung des gesamten Projekts verzögern. Anhand des ermittelten Materialbedarfs werden im Anschluss die Bestellanforderungen für die Beschaffung festgelegt. Den Gegenpart zum Materialbedarf stellt aus Kapazitätssicht die Feinplanung dar. Diese sorgt in der Produktionsplanung dafür, dass die richtigen Ressourcen zum richtigen Zeitpunkt in ausreichendem Umfang zur Verfügung stehen. Projektaufträge haben die Eigenschaft, zum Teil überschneidend auf gemeinsame Kapazitätsstellen und Materialbestände zugreifen zu wollen. Planungs- und Steuerungsfunktionen von ERP-Systemen ermöglichen es, rechtzeitig Engpässe aufzuzeigen und mit geeigneten Massnahmen zu intervenieren.

Produktion, Logistik und Service

Die Phase der eigentlichen Fertigung erfolgt anhand von Produktionsaufträgen bestimmt. Die Produktionssteuerung legt dabei fest, was zu welchem Termin und auf welcher Kapazitätsstelle hergestellt wird. Dabei werden die vorgängig definierten Vorgaben übernommen und mit den auftragsrelevanten Daten ergänzt. Die Kosten, welche bei der bei der Auftragsausführung in Form von Zeit und Material anfallen, werden auf das Projekt belastet und für die Kostenrechnung verwendet. ERP-Lösungen unterstützen diese Phase mit zahlreichen Funktionen wie die Verknüpfung von Produktionsaufträgen über mehrere Fertigungsstufen, Chargenverwaltung, verschiedene Auftragsarten wie Montageaufträge oder zusätzliche Lageraufträge, Splitting oder Zusammenlegung von Aufträgen und vieles mehr. Dazu gehören auch Echtzeit-Informationen und Auswertungen für die Lenkung und Kontrolle der Aufträge. Ist die Produktion abgeschlossen, fallen im Rahmen des Projekts noch weitere Aufgaben an wie Dokumentation, Versand und Service. Aufgrund der Einzigartigkeit bei der projektorientierten Fertigung stellen diese Bereiche besondere Anforderungen. Bei der Dokumentation werden nebst der eigentlichen Projektdokumentation auch kundenspezifische Dokumentationen wie technische Anleitungen, Ersatzteilstücklisten usw. benötigt. Wer schon einmal erlebt hat, welche Dimensionen bei der Anlagenfertigung entstehen, kann leicht nachvollziehen, dass auch im Bereich Logistik und Export besondere Aufgaben anfallen. Dazu gehören beispielsweise das Montage-Management der verschiedenen Baugruppen, welche häufig als „Colli“ angeliefert werden, Planung und Berechnung von Ladungen oder die gesamte Zollabwicklung. Auch wenn das Produkt schlussendlich beim Kunden erfolgreich im Einsatz ist – so richtig fertig ist ein Projekt nie. Der Service muss über Jahre hinweg gewährleistet sein. Serviceintervalle müssen geplant werden und entsprechende Ersatzteile zur Verfügung stehen. Bei Bedarf müssen Reparaturen oder Wartungsaufträge durchgeführt werden, welche auf die oben erwähnten Dokumentationen sowie eine lückenlose Maschinen- oder Anlagenhistorie angewiesen sind.

Diesen und weitere Artikel zum Thema „Softwareentwicklung“ ist im topsoft Magazin 4-13 erschienen. Sie können das Magazin hier kostenlos bestellen.

Christian Bühlmann

Christian Bühlmann ist Chefredaktor des topsoft Fachmagazin für Business Software.