Pünktlichkeit ist ein Qualitätsmerkmal. Nicht nur bei den Schweizerischen Bundesbahnen, sondern auch bei Unternehmensprozessen. Umgekehrt zeigt sich, dass sich viele Probleme auf Verspätungen zurückführen lassen. Diese zu messen, lohnt sich. Verspätungen liefern wichtige Erkenntnisse für die Prozessoptimierung.

 

Wie messen die SBB die Performance ihrer Prozesse? Indem sie die Profitabilität messen? Indem sie die Ausfallraten der Weichen oder der Zugstüren messen? Indem sie die Kundenzufriedenheit messen? All diese Kennzahlen werden sicher gemessen und haben einen Wert. Was aber jedes Jahr mit Spannung erwartet und publiziert wird, ist die Pünktlichkeit (Rate der Verspätungen). Das Ziel ist 89%, aktuell wurde 87.5% erreicht. Warum ist diese Zahl so wichtig, dass sie sogar im Portemonnaie der SBB-Spitze zu spüren ist (1)?

Verspätung ist die Mutter aller Kennzahlen

Die Verspätungs-Kennzahl ist von zentraler Bedeutung. Sie steht einerseits in direktem Zusammenhang mit der Kundenzufriedenheit und beinhaltet andererseits fast alle Probleme, die im SBB-Netz auftreten: Schlecht gewartete Züge, Probleme mit der Infrastruktur, Überlastungen des Netzes, ja sogar extreme Sommer- oder Wintertemperaturen finden alle ihren Weg in diese einzige Zahl.

Ausserdem ist sie sehr einfach zu messen: Alle Züge, die 3 Minuten später als gemäss Fahrplan ankommen, gelten als verspätet. Jedes Kind versteht diese Kennzahl.

Verspätungen scheinen also ein universeller, einfach zu messender Indikator für irgendwelche Probleme mit den untergeordneten Prozessen zu sein. Wird dieses Konzept auch in der Industrie angewendet? Machen Sie die Probe aufs Exempel und gehen Sie zu Ihrem Produktionsleiter; sie werden sehen, dass er eine Li ste der verspäteten Aufträge führt. Vielleicht finden Sie ähnliche Listen auch in andern Ecken Ihrer Firma. Oder Sie finden «On-Time Deliveries»-Kennzahlen als Zielsetzung in der Logistik. Die Berechnung dieser Werte ist aber oft sehr komplex (und politisch dazu). Wir verwenden dieses Konzept seit einigen Jahren bei Kunden flächendeckend und unpolitisch zur Prozessverbesserung.

Flächendeckend heisst: Eine verspätete Bestellung kann zu einer verspäteten Lieferung des Lieferanten führen. Diese verspätete Lieferung kann dann zu einer verspäteten Produktion und dadurch zu einer verspäteten Lieferung zum Kunden führen. Unsere Erfahrung zeigt, dass die Ursachen selten direkt bei den Problemen sind. Beispiel: Ein fehlender Preis (Stammdaten) verhindert eine zeitgerechte Lieferung. Oder eine verspätete Umwandlung der Bedarfsanforderung in eine Bestellung führt zu Fehlteilen in der Produktion.

Unpolitisch heisst: Wir extrahieren die Daten direkt aus dem ERP System und bitten die verantwortlichen, die «Root Causes» der Verspätungen in diese Liste einzutragen. So finden wir heraus, welche 20 Prozent der Ursachen die 80 Prozent der Probleme verursachen, und können diese direkt angehen. Ziehen wir die Listen zwei Wochen später nochmals, sind sie meistens schon viel kürzer. Es zeigt sich: Was gemessen wird, wird getan. Die übergreifenden Probleme müssen allerdings auf eine höhere (organisatorische) Ebene gebracht werden. Weil die Begründung basierend auf den wirklichen Daten erfolgt, ist auch dort die Einsicht schneller zu erreichen.

Falsche Daten verfälschen die Prozesse

Was passiert aber, wenn die Daten im ERP nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen? Dann sind unsere Daten ja falsch! Ja, das stimmt natürlich. Und genau dieser Umstand führt in der Wirklichkeit dazu, dass der nächste Prozessschritt entweder falsch geplant wird (bis hin zum falschen Versprechen gegenüber dem Kunden) oder dass das ERP System durch Excel-Listen «ergänzt» wird. Manchmal helfen bei diesem Problem auch einfach grosse Lager… Schlechte Planung und schlechte Ausführung führen schlussendlich zum selben Resultat: Verspätungen. So können also beide Grundübel durch die gleiche Kennzahl entdeckt werden.

Bei vielen Kunden kommt ein grosses Problem dazu: Auftragsänderungen erschweren die Definition und das Messen von Verspätungen. Die SBB mit ihren zwei Fahrplanwechseln pro Jahr kennen dieses Problem nicht. In der heutigen, schnelllebigen Zeit ist das allerdings ein schlimmes Problem, das viele Firmen an den Rand der Verzweiflung (und der Profitabilität) bringt. Ich möchte dieses Problem nicht klein reden, nur Denkanstösse aus der Praxis geben.

Wie oft können Sie zum Beispiel in einem Fastfood-Restaurant Ihre Meinung ändern, nachdem sie die Bestellung aufgegeben und sie eine Minute später bezahlt haben? Selten. Deshalb existiert dieses Problem hier auch nicht. Doch wie oft können Sie Ihre Meinung anpassen, nachdem sie ihre Bestellung aufgegeben haben und die Lieferung erst 6 Monate später bei ihnen eintriff? In der Regel oft. Deshalb messen wir Änderungen der Dokumente als zusätzlichen Parameter für die Fehlersuche. Änderungen sind oft einer der grossen Treiber der administrativen Kosten und der schlechten Prozessperformance.

In der Praxis treffen wir häufig lange Zeiten zwischen Bestellung und Lieferung an. Wir glauben, dass Planungen (Bestellungen können in diesem Fall höchstens als Planungen bezeichnet werden, weil sie vor der Lieferung sicher noch geändert werden) oft mit einem zu langen Horizont gemacht werden. Wegen den vielen Änderungen ergibt das leider nur eine Schein-Sicherheit.

Denkanstoss 1: Häufig reicht es, Kapazitäten längerfristig zu planen oder zu reservieren und anschliessend die Teile kurzfristig abzurufen. Als Beispiel nehme ich hier Gussteile. Normalerweise haben diese Teile sehr, sehr lange Lieferzeiten. Trennt man allerdings die Kapazitätsreservation (die langfristig gemacht werden muss) vom Abruf der Teile, können aus Monaten Tage werden.  Dem Giesser reicht es nämlich, wenn er kurzfristig weiss, welche Form er einspannen muss. vorausgesetzt er hat genügend Kapazität und Rohmaterial zur Verfügung. Dieses Prinzip gilt auch für viele andere Gelegenheiten.

Denkanstoss 2: Lange Lieferzeiten können auch durch den Ersatz eines Make-to-Order (MTO) durch einen Assemble-to-Order (ATO) Prozess erreicht werden. Allerdings ist hier zu beachten, dass alle Teile, die für das Assembly gebraucht werden, auch strategisch gelagert werden. Sonst wird dank den Fehlteilen aus dem schnellen ATO wieder ein langsamer MTO Prozess mit «Feuerwehrübungen».

Nur im Krieg gibt es Helden

Der nächste Grund, warum aus unserer Sicht solche Systeme in der Industrie selten eingesetzt werden: Das Heldentum, denn nur im Krieg gibt  es Helden. Problemlöser, die in letzter Minute den «Karren aus dem Dreck ziehen» werden als Helden geehrt. Wie oft haben Sie hingegen schon gesehen, dass jemand gelobt wurde, weil in seiner Abteilung gar keine Probleme aufgetaucht sind (weil er seine Prozesse im Griff hatte)? Verspätungen als Futter für die Helden.

Zusammenfassend können wir sagen, dass sich Verspätung als flächendeckende und einfach zu ermittelnde Kennzahl sehr gut für die Prozessverbesserung eignet. Alle Prozessprobleme, sei es in der Planung oder in der Ausführung, enden früher oder später in einer Verspätung. Auftragsänderungen erschweren allerdings die Messung solcher Verspätungen. Da Auftragsänderungen (vermutlich sogar exponentiell) mit der Zeit zwischen Bestellung und Lieferung zusammenhängen, geben wir deshalb Denkanstösse zur Reduktion dieser Zeit: Die Unterscheidung von Kapazitäts- und Teileplanung und der vermehrte Einsatz eines korrekt ausgeführten ATO Prozess können die «Lead Time» stark reduzieren.

Bleibt also noch eines: Wie können wir sicherstellen, dass die gefundenen Verbesserungen in die Praxis umgesetzt werden und dass nicht wieder ein neuer «Schlendrian» einzieht? Bei Firmen mit SAP ERP Systemen z.B. sorgt eine Funktionalität im Solution Manager (Business Process Analytics) dafür, dass diese Kennzahlen jede Nacht gemessen werden. Ausserdem alarmiert diese Funktionalität am Morgen proaktiv die Verantwortlichen, wenn zu viele Verspätungen aufgetreten sind. Und sie erstellt Grafiken, die dem oberen Management zeigen, dass ihr System richtig läuft – und ihre Boni gesichert sind. Genau wie bei den SBB.

(1) http://www.nzz.ch/aktuell/startseite/sbb-fahren-im-raum-zuerich-hohe- verspaetung-ein-1.18219475

Keynote Referat von Dr. Andreas Spiess am Software-Contest 2015: Anwendung von Führungskennzahlen im Unternehmen

Autor:

SpiessDr. Andreas Spiess ist Gründer der Arumba GmbH und einer der wenigen unabhängigen ERP Experten. Er unterstützt Management Teams und Projektleitungen mit seiner Zweitmeinung. Ausserdem verwendet er das hier beschriebene Konzept zur Prozessoptimierung. www.arumba.com