Die Zukunft des ERP im Zeitalter des Digital Business

23.02.2017

Welche Anforderungen müssen ERP-Systeme in Zukunft bewältigen? Wie beurteilen Softwarehersteller ihre Rolle im digitalen Business? Was sind die Treiber bei der Entwicklung neuer Systeme? Die fünf Herausforderer des Software-Contest 2017 diskutierten aktuelle Thesen und Trends beim topsoft Roundtable in der ehemaligen Industriellenvilla Boveri in Baden.

Werden ERP-Systeme als zentraler Hub im Unternehmen künftig eine noch grössere Rolle spielen? Verändert sich der Schwerpunkt solcher Applikationen von der Ressourcenverwaltung zunehmend in Richtung Integrations-Drehscheibe? Für Simon Lüdi, CEO dynasoft AG, geht der Trend ganz klar in diese Richtung. ERP-Systeme repräsentieren dabei immer mehr das virtuelle Erscheinungsbild eines Unternehmens. Dabei lasse sich nicht nur die gesamte Wertschöpfungskette abbilden, sondern auch verschiedene Unternehmen untereinander vernetzen. Im ERP als «Single Point of Contact», so Lüdi, laufen alle Fäden bzw. Prozesse zusammen. Die Zeiten der Konzentration auf die klassische Ressourcenverwaltung sei Geschichte, beurteilt Jörg Holzmann, Niederlassungsleiter bei myfactory Schweiz, die Zukunft von ERP-Systemen. Moderne Lösungen funktionieren als integrierende Daten-Drehscheibe und stossen dank offenen Technologien wie Webservice, XML, API oder Cloud-Anwendungen in neue Dimensionen vor. Dadurch ermögliche das ERP als zentrale Kommunikations- schnittstelle den Datenaustausch zwischen allen internen und externen Nutzern über die Unternehmensgrenzen hinweg. Bereits heute würde das ERP als Integrations-Drehscheibe das digitale Rückgrat vieler Unternehmen bilden, bestätigt auch Mario Deicher, Managing Director von Asseco Solutions AG. Dank der laufenden Weiterentwicklung werde man das digitale Potenzial ganzer Supply-/Value-Chains künftig noch mehr ausreizen können.

Jürg Feuz von Comarch Swiss AG zur Zukunft des ERP

Jürg Feuz, Comarch Swiss AG

Systemübergreifende Funktionen sind gefragt

Ob sich das ERP dereinst vom digitalen Rückgrat zum Superhirn des Unternehmens entwickelt, ist derzeit noch nicht absehbar. Auch wenn sich dieser Trend abzeichne, gibt Jürg Feuz, Geschäftsführer bei Comarch Swiss AG, zu bedenken, würde die Bedeutung eines ERP stark von den einzelnen Branchen abhängen mit ganz unterschiedliche Ausprägungen und Anforderungen. Die funktionale Betrachtungsweise könne aber durchaus an Bedeutung verlieren, so dass man künftig vielleicht gar nicht mehr von einem ERP im herkömmlichen Sinn sprechen würde, sondern eher von einem System für Datenhaltung und -verteilung, so Feuz. Das könne so weit gehen, dass die einzelnen Funktionen von spezialisierten Diensten abgelöst würden. Für Jürg Feuz ist das allerdings noch visionäre Zukunftsmusik. Thomas Frei, Geschäftsführer von Step Ahead Schweiz AG hält dem entgegen, dass solche Szenarien gar nicht so weit hergeholt seien. Er stellt fest, dass die Integrationsfähigkeit bei Ausschreibungen häufig ein zentrales Thema ist. Viele Anwender haben den Datensalat satt, der durch verschiedene Systeme verursacht wird. Ähnlich wie bei einem Puzzle verlangen die Kunden nach systemübergreifenden Anwendungsmöglichkeiten, welche sich durch einzelne Applikationsdienste frei zusammenstellen lassen müssen. Idealerweise sollte der «ERP-Motor» für die Benutzer gar nicht in Erscheinung treten, ergänzt Simon Lüdi. Die Daten sollten lediglich über geeignete Dienste oder Apps in der gewünschten Form den unterschiedlichen Anwendern eines Unternehmens zur Verfügung gestellt werden.

Thomas Frei von Step Ahead Schweiz AG zur Zukunft des ERP

Thomas Frei, Step Ahead Schweiz AG

Monolithische ERP-Systeme haben ausgedient

Es sei durchaus vorstellbar, meint Jürg Feuz, dass ERP-Anbieter in Zukunft nicht nur die Software liefern, sondern gleichzeitig auch funktionsorientierte Services anbieten. Vielleicht werden Unternehmen dereinst gar keine ERP-Systeme mehr brauchen, sondern nur noch Dienste nutzen z.B. für das Ausdrucken von Belegen oder für die Aufbereitung von Aufträgen. Bisherige Systeme wurden unter dem Aspekt entwickelt, möglichst umfassend zu sein; ob das in Zukunft auch so sein werde, bezweifelt Feuz. Dieser Ansicht ist auch Simon Lüdi: Das Zeitalter der monolithischen ERP-Systeme gehe seinem Ende entgegen, nicht zuletzt infolge der Entwicklung von Industrie 4.0 Konzepten. Das bedinge aber auch, ergänzt Jörg Holzmann, dass man die Datensilos der jetzigen Systeme verlässt und den Datenaustausch zwischen verschiedenen Anwendungen ermöglicht. Einen interessanten Aspekt bringt Thomas Frei zur Sprache: Werden die Kunden dabei nicht überfordert? Kommen nicht viele Unternehmen beim Thema ERP schon heute ans Limit? Oft fehlen Anwendern die Zeit und die Kompetenz, Business Software optimal zu nutzen. Möglich sei es, meint Frei, dass gerade deshalb die Zukunft funktionalen Services gehöre anstatt dem Betrieb eines eigenen ERP-Systems. Der Kunde darf auf keinen Fall aus den Augen verloren werden, warnt Jürg Feuz. Softwareanbieter denken oft viel zu weit und vergessen, dass die Realität des Anwenders anders aussieht als alle kühnen Visionen internationaler IT-Konzerne.

Technologien ermöglichen neue Geschäftsmodelle

ERP-Software wird es noch lange geben, jedoch sei es unbestritten, dass sich in absehbarer Zeit eine zweite Welt mit neuen Lösungsansätzen eröffnen wird. Dies sei auch nötig, erklärt Mario Deicher, denn schon jetzt gäbe es Geschäftsmodelle, welche auf ganz neuen Paradigmen beruhen. Dazu brauche es auch entsprechende Anwendungen. So benötigt zum Beispiel eine weltweit tätige Kaffeekette für ihre Franchise-Partner eine Lösung, um Services eine bestimmte Anzahl Kaffeefüllungen zu garantieren und  abzurechnen sowie gleichzeitig die Vereinbarungen im Wartungsbereich zu erfüllen. Predictive Maintenance, so Deicher, ist dabei ein zentrales Thema. Dazu müssen Geräte und Maschinen mit ERP-Systemen kommunizieren können. Dabei wird das Thema Datensicherheit grossgeschrieben. Gerade für die Kunden eines Cloud-ERP-Anbieters wie myfactory ist es sehr wichtig, dass die Daten in der Schweiz gelagert werden, erläutert Jörg Holzmann. Nicht erst in der heutigen Zeit liefert die technologische Entwicklung die Grundlagen für neue, disruptive Geschäftsmodelle. Alle Roundtable-Teilnehmer spüren die Marktveränderungen bei ihren Kunden in Richtung Service-Angebote statt Produktverkauf.

Zur Zukunft des ERP äusserte sich auch Mario Deicher von Asseco Solutions AG

Mario Deicher, Asseco Solutions AG

Das ERP wird zur Industrie 4.0 Plattform

Die heutigen ERP-Systeme sind laut Simon Lüdi gut positioniert, um im Industrie 4.0 Umfeld ihre Rolle als Plattform für Daten und Prozesse wahrzunehmen. Dabei gehe es aber nicht darum, alle Funktionen ins ERP zu packen. Ziel sei es nicht, eine Lösung aus einer Hand für alles zu realisieren. Vielmehr zeichne sich Industrie 4.0 taugliche Software durch eine hohe Konnektivität zu Drittsystemen aus. Wie weit dabei das Spektrum reicht, zeigt ein Beispiel von Comarch: Das Unternehmen verfügt über eine eigene IoT-Plattform (Internet of Things) und entwickelt sogar eigene Sensoren für Maschinen. Dabei stellt Jürg Feuz fest, dass die Grenzen zwischen IoT und ERP immer mehr verschwimmen. Schlussendlich würde man das auch bei der Planung und Umsetzung von Projekten feststellen, bei welchen Spezialisten aus unterschiedlichen Disziplinen zusammenarbeiten. Das Thema Industrie 4.0 sei zwar vielschichtig, trotzdem beruhe es auf bekannten Businessprozessen, so Lüdi. Um diese digital zu unterstützen, brauche es auch weiterhin die Unterstützung von ERP-Anwendungen. Vielleicht werden die Systeme nicht mehr im Vordergrund stehen, aber der funktionale Bedarf bleibt. Was allerdings dringend nötig sei, sind weltweit gültige Datenstandards. Ohne diese sei die Interoperabilität von ERP-Systemen und Industrie 4.0 Umgebungen nur eingeschränkt möglich, ist Jörg Holzmann überzeugt. Dass die heute verwendeten  Datenkonzepte allerdings nicht für alle Zeiten in Stein gemeisselt sein müssen, ist theoretisch vorstellbar. Denkbar wäre etwa, dass zum Beispiel Artikelstammdaten gar nicht mehr an ein ERP-System gebunden sind, sondern als durchgängiges Business- Objekt von einer zertifizierten Stelle zur Verfügung gestellt werden. Standardisierungen haben es schwer, weiss Simon Lüdi aus Erfahrung. Aber wer weiss: Ein Ansatz wie bei der Blockchain-Technologie könnte vieles ändern. Vielleicht, so Jürg Feuz, kommt der Druck irgendwann aus einer ganz anderen, unerwarteten Ecke. Wir denken oft noch zu «klassisch». Was, wenn es die Hürden, an denen wir heute scheitern, morgen gar nicht mehr gibt?

Auch Jörg Holzmann von myfactory Software Schweiz AG diskutierte über die Zukunft des ERP

Jörg Holzmann, myfactory Schweiz AG

Vom Softwareanbieter zum Business Enabler

Bei der Umsetzung einer Geschäftsidee können Softwareanbieter wertvolle Inputs liefern. So sieht sich beispielsweise Step Ahead durchaus als Businesspartner, welche Kundenvorhaben aufgrund von Erfahrung und Wissen in konkrete Anwendungen umsetzen kann. Auch die anderen Anbieter gehen darin einig, dass es heute nicht mehr reicht, Software zu entwickeln und mit einem fixen Prozess zu verbinden. Die Welt tickt einfach nicht mehr so. Mehr denn je sei Anpassungsfähigkeit gefragt – und zwar möglichst einfach, günstig und schnell. Die Kunden müssen und wollen ihr Business schnell und kostengünstig auf- und ausbauen. Wer als Softwarehersteller erfolgreich sein will, muss in der Lage sein, ein Unternehmen zu beraten und ein machbares, individuelles Lösungskonzept vorzuschlagen. Dabei stehen wir als IT-Anbieter in einem extremen Spannungsfeld, erklärt Jürg Feuz. Einerseits müssen spezielle Kundenwünsche realisiert werden, andererseits muss sich die Software am Standard orientieren, um die Wartbarkeit und Releasefähigkeit jederzeit gewährleisten zu können. Der Kreislauf  zwischen  Kundenbedürfnissen und  Softwareentwicklung war schon immer der Treiber hinter der technologischen Evolution. Heute können Anwender auf sehr reife ERP-Systeme zurückgreifen, mit denen sich auch völlig neue Geschäftsideen realisieren lassen, beurteilt Simon Lüdi den aktuellen ERP-Markt. Zudem seien die Benutzer meistens viel mündiger als früher, stellt Jürg Feuz fest. Bei Asseco gehe man aktiv noch einen Schritt weiter, verrät Mario Deicher. So arbeite man derzeit mit einer neutralen Beratungsfirma zusammen und biete so Kunden und Interessenten die Möglichkeit, neue Geschäftsmodelle zu evaluieren, Ideen zu validieren und Prozesse zu analysieren. Die Dienstleistung sei zwar für den Kunden kostenpflichtig, komme aber gut an. Das erarbeitete Analysedokument mit konkreten Ergebnissen kann als Business-Grundlage – unabhängig vom ERP-Produkt – verwendet werden. Sowohl bei Step Ahead als auch bei dynasoft können Kunden auf Wunsch und bei Bedarf sogar von Outsourcing-Leistungen profitieren. Gerade kleinere Unternehmen seien froh, so Thomas Frei, wenn bei Ferienabwesenheiten oder Krankheitsfällen einer ihrer Mitarbeiter die Buchhaltung weiterführt. Das Problem bei solchen Services sei, erläutert Simon Lüdi, dass man sich ressourcenmässig schnell verzetteln kann. Es sei ja nicht das Kerngeschäft des Softwareanbieters, die Lösung gleich noch selber zu betreiben.

Von dynasoft AG beteiiligte sich Simon Lüdi an der Diskussion zum Thema Zukunft des ERP

Simon Lüdi, dynasoft AG

Generationenwechsel ist überall spürbar

Es sei interessant zu beobachten, wie sich das agile Denken auf Anwenderseite immer mehr durchsetze, stellt Jörg Holzmann fest. Während früher eher im «Wasserfallmodell» gedacht wurde, wird heute etappenweise umgesetzt und optimiert. Dabei, so Mario Deicher, haben sich aber auch Erwartungshaltung und Verhalten der Benutzer verändert. Die Anforderungen an die Mitarbeitenden, egal in welcher Funktion und in welchem Unter- nehmen, steigen rasant. Auf der anderen Seite sei die neue Generation von Softwareanwendern mit Spielen und Apps aufgewach- sen; das habe auch Auswirkungen auf die Art zu denken und zu arbeiten. Selbst um das Thema «Gamification» komme man heute bei der Entwicklung von ERP-Anwendungen nicht herum, erläutert Jürg Feuz. Seine Mitbewerber bestätigen das: So wird Step Ahead beispielsweise bei der Produktentwicklung von einem Spezialisten aus der Spielewelt unterstützt, und myfactory holte sich das Wissen von externen Experten für  die neue Benutzeroberfläche. Umdenken und neue Sichtweisen bei der Softwareentwicklung sind zwingend notwendig, tönt es unisono bei allen Anbietern. Mit dem Generationenwechsel werde man nicht nur auf der Benutzerseite konfrontiert, sondern auch intern im eigenen Unternehmen. Die Suche nach Nachwuchskräften hat hohe Priorität, erklärt Simon Lüdi. Dabei stelle er immer wieder fest, dass sich auch die Art, Software zu entwickeln, im Vergleich zu früher geändert habe. Der Hang zum Perfektionismus sei einem Streben nach Flexibilität und Agilität gewichen. Time-to-market ist entscheidend, und Iterationsintervalle werden immer kürzer. Die neue Generation sei fehlertoleranter, lege aber gleichzeitig mehr Wert auf die Oberfläche und die Anwendbarkeit der Lösung. Man stelle fest, so Thomas Frei, dass der Programmiercode langsam an Bedeutung verliere, dafür aber User-Interface, Benutzerfreundlichkeit der Lösung und Datenhaltungskonzepte immer wichtiger würden.

Wie viele Anbieter verträgt der ERP-Markt?

Konsolidierung des ERP-Marktes? Offenbar Fehlanzeige. Keiner der Anwesenden beim Roundtable sieht derzeit dunkle Wolken am Horizont. Ein disruptiver Wandel – quasi ein Amazon oder Uber im ERP-Umfeld – sei nicht in Sicht, findet Thomas Frei. Und Jürg Feuz beurteilt die derzeitige Marktsituation wie folgt: «So unterschiedlich die Kunden, so verschieden die Anbieter. Jeder findet seinen Platz. Wer heute im Markt präsent ist, hat seinen Job gut gemacht. Es braucht die ganz Grossen, aber auch die Kleinen. Schlussendlich müssen Anbieter und Kunden zusammenpassen.» Mario Deicher und Jörg Holzmann sind der gleichen Meinung. Auch in einer digitalen Welt brauche es Menschen – von der Geschäftsidee über die Entwicklung und das Projekt bis hin zur Anwendung. Deshalb haben auch kleinere Anbieter gute Chancen, sich in ihrer Marktnische erfolgreich zu behaupten.