Die Zukunft von ERP-Software

27.04.2023
8 Min.
Um sich ein Bild über die ERP-Zukunft zu machen, sind Kristallkugeln, Horoskope und Tarot-Karten denkbar ungeeignet. Umso aussagekräftiger sind die Überlegungen von Softwareanbietern, welche bereits heute den Markt von morgen im Visier haben. Schnallen Sie sich an, wir starten zu einer Zeitreise in die Zukunft.
 
 

Symbolbild AdobeStock

 
 
Zugegeben, als mir die Idee zu diesem Thema gekommen ist, war ich etwas blauäugig. Ich dachte mir, ein paar unverbindliche, spekulative Worte zur Cloud und dem KI-Hype reichen. Aber dann kam ich ins Gespräch mit einigen Softwareherstellern, welche mich eines Besseren belehrt haben. Die Zukunft ihrer ERP-Software steht bei ihnen auf der Tagesagenda. Da geht es nicht nur um ein paar neue Funktionen, sondern um eine Neuinterpretation von Business Software. 
 
Zuerst hatte ich die Gespräche als typisches Marketing-Geschwurbel abgetan. Gerade so wie diesen Hype um Künstliche Intelligenz (KI), der schon seit Jahren in den Medien breitgeschlagen wird. Doch dann kam plötzlich dieses ChatGPT auf den Markt und schlug ein wie eine Bombe. Schulen diskutieren über Verbote, während sich die Kids die Hucke voll lachen. Wir alle wissen, einen neuen Benchmark kann man nicht mehr rückgängig machen. 
 
Aber echt jetzt, KI und ERP? Unvorstellbar. Oder etwa doch nicht? Ein System lässt sich problemlos trainieren, wie wir inzwischen wissen. Schon heute stellen wir eine zunehmende Automatisierung mittels Workflows und vernetzter Komponenten fest. Sobald einmal der Anfang gemacht ist, gibt es kein Zurück mehr. Viele Softwarehersteller sind schon in den Startlöchern, einige davon werden in diesem Artikel zitiert.
 
 

Einfluss der digitalen Gesellschaft

In fünfhundert Jahren wird es interessant sein darzustellen, wie sich unsere Gesellschaft im 21. Jahrhundert durch die zunehmende Digitalisierung verändert hat. Meine Nachfolger werden gerne darüber berichten. Inzwischen stellen wir fest, dass wir alle nicht mehr dieselben sind wie vor dem digitalen Big Bang des Internets. 
 
Simon Lüdi spricht aus langjähriger Erfahrung, wenn er sagt: «Der Mensch verändert sich durch den permanenten Umgang mit virtuellen Systemen nachhaltig. Das bedeutet nichts anderes, als dass ein Digital Native grundsätzlich ein anderes Verhalten an den Tag legt als jemand, der ohne Computer aufgewachsen ist. Während Letztere nach wie vor die Dinge bis auf den Grund verstehen möchten, wagen modernere Menschen den Tanz auf höherer Ebene. Sie erlauben sich, gesamten Systemen zu vertrauen, bzw. fokussieren darauf, wie mit diesen Artefakten zu interagieren ist.» Das bedeutet nichts anderes, als dass das ERP bald schon den Lead hinsichtlich Intelligenz in Unternehmen übernehmen wird (Mr. Spock lässt grüssen). 
 
Etwas konkreter schildert es Uwe Singer: «Office (Microsoft) ist immer ein guter Gradmesser. In den aktuellen Versionen existieren «selbstlernende» Menus, welche die häufig benutzten Funktionen zeigen und andere verstecken. Dadurch passt sich die Oberfläche dem individuellen Verhalten an. Zudem kommen mit Google und Alexa immer mehr sprachgesteuerte Systeme in den Alltag. Die nächste Generation wird erwarten, dass dies auch in der ERP-Welt gehen wird.» 
 
Solche Inspirationen findet auch Peter Herger anregend: «Der ERP-Markt gehört aktuell nicht zu den Innnovationstreibern. Sicher sind im Bereich Collaboration spannende Entwicklungen im Gang, welche sich auch im ERP-Markt adaptieren lassen. Es gibt viele weitere Beispiele, von denen man lernen kann. Der wichtigste Grundsatz in der Entwicklung lautet für uns wie eh und je deshalb Offenheit in allen Belangen.» 
 
 

«Der Mensch verändert sich durch den permanenten Umgang mit virtuellen Systemen nachhaltig»
Simon Lüdi, CEO dynasoft

 
 

Das Smartphone als Vorbild

In 5 – 10 Jahren werden viele Babyboomer pensioniert. Und damit auch die von ihnen entwickelten ERP-Systeme? Ja und nein. Manche Hersteller haben vorgesorgt, junge Leute an Bord geholt und werden den Markt schon ab diesem Jahr mit neuen Lösungen beleben. Mehr dazu lesen Sie in der nächsten Ausgabe unseres Magazins.
 
Grundsätzlich lassen sich zwei grosse Trends feststellen. Einerseits wird die Nutzung des ERP als Service aus der Cloud weiter voranschreiten. Andererseits findet ein Generationenwechsel hinsichtlich Usability statt. Uwe Singer von Boreas will frischen Wind (der Name ist Programm) in den ERP-Markt bringen: «Die zukünftigen Anwender und Entscheider wachsen mit Apps auf dem Smartphone auf. Ein zukünftiges ERP muss also auch in einer Art App daherkommen oder zumindest mit vielen hilfreichen Apps ergänzt sein.» 
 
Hier muss ich etwas Persönliches anfügen: Ich habe vor Kurzem angefangen, meine grauen Zellen mit gewissen Spielen auf dem Smartphone (Sudoku, Puzzles, Geografie etc.) zu trainieren. Aufgefallen ist mir, dass sich auch komplexe Eingaben mit Touch-Gesten und grafischer Darstellung extrem vereinfachen lassen. Es liegt wortwörtlich auf der Hand. Das Handy wird zum Vorbild für die künftige Benutzeroberfläche einer ERP-Software.
 
 


«Der wichtigste Grundsatz in der Entwicklung lautet deshalb Offenheit in allen Belangen.»
Peter Herger, Geschäftsführer Proffix

 
 

Cloud, Cloud, Cloud… ganz laut

Software aus der Steckdose – davon haben wir damals geträumt. Das Aufkommen von Application-Service-Provider (ASP) und der Sprung zu Software-as-a-Service (SaaS) waren schon spektakulär. Die Skepsis war anfangs gross, aber wenn etwas da ist, kriegt man es nicht mehr weg. Seither geht nichts mehr ohne die Cloud. Auch Simon Lüdi von dynasoft, dem Hersteller des Schweizer ERP-Systems tosca, ist überzeugt, dass die Anforderungen an ein ERP-System in der Cloud liegen und künftige Technologie webbasiert sein muss.
 
Dass die Zukunft webbasiert ist, bestätigt auch Peter Herger von Proffix: «Wir arbeiten an einer cloudnativen Lösung. Hier wird die Zukunft liegen und in den nächsten Jahren viel passieren. Unser Ziel ist es, Lösungen anzubieten, die integriert in verschiedene Ökosysteme überall, 7x24, zu erschwinglichen Betriebskosten verfügbar sind.» Boreas, dynasoft, Proffix – das sind nicht die einzigen Hersteller, welche in den nächsten Monaten mit einem Cloud-ERP im Schweizer Markt aufwarten. Kleine Randnotiz: Es wird sich dabei nicht mehr um Mini-Lösungen handeln, welche man gerade so für Rechnungsstellung und Weihnachtskartenversand nutzen konnte. Wir dürfen uns auf vollwertige ERP-Systeme aus der Cloud freuen.
 
 

Wer wird smarter – Anwender oder Anwendung?

Künstliche Intelligenz ist ein Tool mit einem enormen Potenzial, welches ERP-Anwendungen noch smarter machen kann. Ich habe Peter Herger gefragt, was künftig smarter sein wird: Anwender oder Anwendungen. Mit einem Lachen meint er: «Smart müssen künftig beide sein. Die Software wird bei digitalisierten Abläufen in vernetzten Umgebungen bezüglich Datenverfügbarkeit, Datenauswertung und Informationsaufbereitung immer smarter und stärker unterstützen, aber es wird sicher noch einige Zeit der Mensch sein, der die Entscheidungen fällt. Der Mensch, der die Prozesse versteht, muss involviert bleiben, um gegebenenfalls auch intervenieren zu können.» 
 
Spannend auch, was Uwe Singer dazu meint: «Benutzer wollen alles einfacher, transparenter und individueller. Es reicht also nicht mehr in einem ERP viele Funktionen zur Verfügung zu stellen. Diese sollen auch zur richtigen Zeit am richtigen Ort angeboten werden.» Während die Anwender auf dem Status Quo verharren, holen ERP-Systeme rasant auf. 
 
Das denkt auch Simon Lüdi: «Es wird ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Der Anspruch steigt auf beiden Seiten. Denken Sie an ChatGPT. Je smarter der Anwender, umso smarter die Antworten. Software wird in Zukunft noch stärker mit dem Anwender interagieren. Und der Anwender muss in der Lage sein, richtig zu gewichten, zuzuordnen und entsprechend zu reagieren.»
 
 


«ERP-Funktionen sollen zur richtigen Zeit am richtigen Ort angeboten werden.»
Uwe Singer, Geschäftsführer boreas

 
 

Die Chancen für Schweizer ERP-Hersteller stehen… 

Irgendwie habe ich immer das Gefühl, dass Software-Entwicklung nach dem Kräuterbonbons-Modell funktioniert: Wer hat’s erfunden? Und dann lutschen uns alle die Zückerchen weg. Die Schweizer Softwareindustrie ist fantastisch. Wir haben nicht nur Silikon-Täler, sondern auch digitale Gipfel. Doch Bescheidenheit liegt eben auch in unserem Naturell… Nun denn, wie sieht es mit der ERP-Zukunft hierzulande aus? Bleibt es beim lokalen Sonderfall (Asterix lässt grüssen) oder werden wir dereinst zum globalen ERP-Epizentrum? 
 
Hier hat Simon Lüdi eine klare Meinung. Für ihn sind das sehr gute Bildungsniveau, die stabile Gesellschaft und Tugenden wie Fleiss, Disziplin und Bescheidenheit ideale Voraussetzungen für die Zukunft: «ERP-Entwickler haben in der Schweiz beste Chancen. Die dynasoft AG selbst profitiert von einem gewaltigen Fundament, welches zurückgeht auf die Anfänge dieser Industrie und seither gesund gewachsen ist.» Die Schweiz, ein Land von Kantonen und Dialekten, bis heute gepflegt und wertgeschätzt. Sind wir die Blaupause für die globale Welt von morgen? 
 
Ganz so weit würde Uwe Singer nicht gehen. Doch er bezieht sich ja «nur» auf ERP-Software: «Neben den grossen Mainstream-Entwicklungen der «grossen» ERPs wird es viele kleine Anwendungen für Nischen geben. Diese müssen näher am Kunden entwickelt werden. Als globaler Player ist die Schweiz zu teuer und der unmittelbare Markt zu klein. Aber die Schweiz bietet mit den vier Landessprachen und anderen Spezialitäten (z. B. 5-Rappen-Rundung) viele Vorgaben, welche zu einer von Anfang an durchdachten Funktionalität führt. Im Ausland entwickelte Software ist da meist weniger flexibel, weil von einem Standard ausgegangen wird, der hier keine Gültigkeit hat.» Und Peter Herger bestätigt: «Die Schweiz hat viele Besonderheiten, die für internationale Anbieterinnen und Anbieter schwierig und oft auch nicht lukrativ sind. Nach dem Best-of-Breed-Prinzip versuchen wir, die weltweit für Schweizer KMU besten Produkte in unser Ökosystem zu integrieren.» 
 
 

Psst, jetzt der Blick in die Entwicklerküche

Streng geheim! Was Sie hier lesen, bitte nicht weitererzählen. Wir werfen einen exklusiven Blick in die Entwicklerküche von…
 
  • Proffix, Peter Herger: «In der Weiterentwicklung unserer Software setzen wir noch mehr auf offene Schnittstellen und Integrationsfähigkeit. Zusammen mit unseren Vertriebspartnern erweitern wir damit Standardanwendungen zu integrierten Lösungen und Workflows. Dabei setzen wir nach dem Prinzip «Best-of-Breed» auch auf Drittprodukte, wobei uns die Offenheit unseres ERP zugutekommt. Gleichzeitig arbeiten wir an einer cloudnativen Lösung. Hier wird die Zukunft liegen und in den nächsten Jahren viel passieren. Unser Ziel ist es, Lösungen anzubieten, die integriert in verschiedene Ökosysteme überall, 7x24, zu erschwinglichen Betriebskosten verfügbar sind. Im Moment liegt unser Schwerpunkt darin, Systeme mithilfe modernster Micro-Services zu verbinden und Lösungen effizient in der Cloud zu betreiben.»
  • Boreas, Uwe Singer: «Das aktuelle als «Fat-Client» entwickelte ERP wird komplett neu als reine Cloudlösung entwickelt. Rollenbasierte Ansichten erlauben es, den vollen Funktionsumfang in «Häppchen» zu verpacken und mit einem Responsive-Design Smartphone-tauglich zu machen. Die richtigen Daten, zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort. Man könnte sagen, dass der JIT-Ansatz in der Autoindustrie nun auch in der Informatik Einzug hält. Gesteuert von Prozessen und nicht vom Anwender. Auf der einen Seite sollen die Funktionen weiter in den Hintergrund rutschen. Der konsequente Einsatz von Prozessen ermöglicht die Verarbeitung der komplexen Vorgänge in einem Unternehmen in kleinen Schritten. Der Benutzer soll sich dabei nur noch um das Wann und Was kümmern. Das Wie und Wo übernimmt das ERP.»
  • Dynasoft, Simon Lüdi: «tosca.web, unser jüngster Spross, zeichnet kommt als webbasierte Lösung daher und zeichnet sich aus durch Interoperabilität mit beliebigen Drittsystemen, Anbindungen an Konfiguratoren, Marketingautomatisationssysteme, AI-unterstützte Stammdatenanreicherung usw. Technologisch State-of-the-art, mit attraktiver Oberfläche, leichtgewichtig und trotzdem funktional ein Schwergewicht. Aber auch im Kern des ERPs tut sich einiges. So werden die frei konfigurierbaren Geschäftsprozesse weiterentwickelt. Eine zunehmend wichtigere Funktionalität, um mit der notwendigen Agilität mit dem ERP der Volatilität der Märkte zu begegnen.»
 

Fazit: ERP-Software definiert sich neu

Von der Cloud bis zu Künstlicher Intelligenz – die ERP-Zukunft wird spannend. Wir finden dabei Themen wie:
  • Prozessintegration
  • Cloud Services
  • Integration Umsysteme
  • Benutzeroberfläche
  • Automatisierung
  • Selbstlernende Systeme
  • Sprachsteuerung
Noch spannender ist es, dass wir damit schon bald rechnen dürfen. Wir reden hier nicht mit Jules Verne. Und wer weiss, vielleicht wird ein Newcomer den Markt komplett aufmischen. Und an alle Softwarehersteller, welche ich in diesem Beitrag nicht erwähnt habe: Selbstverständlich berichte ich auch gerne über Ihre Ansichten und Lösungen (c.buehlmann@topsoft.ch). Wir bleiben auf jeden Fall dran.

 

 
 

Der Beitrag erschien im topsoft Fachmagazin 23-1

 

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