Industrie 4.0: Perspektiven durch neue Service-Modelle

Die Schlagworte «Digitalisierung» und «Industrie 4.0» sind spätestens seit dem letzten Jahr auch ausserhalb von Fachkreisen zu Alltagsbegriffen geworden. Sie sind technologisch begründet und stellen somit per se nicht den Anwender oder Kunden ins Zentrum. In diesem Artikel nehmen wir daher bewusst die Service-Perspektive ein: wie kann für Anwender und Kunden in ihrem Arbeitsalltag Service-Nutzen erzeugt werden bei der Bewältigung ihrer Aufgaben?

Digitalisierung und Industrie 4.0

Mit der Verbreitung des Internets über die letzten 20 Jahre hat sich die Digitalisierung in weite Bereiche von Gesellschaft und Wirtschaft ausgedehnt. Während administrative Prozesse schon überwiegend digitalisiert und effizient gestaltet sind, bis hin zu omnipräsenten digitalen Self-Service-Prozessen, hinkt die physische Welt hinterher. Digitalisierungsansätze in der Produktion sind meist isoliert auf einzelne Bereiche. Insbesondere bei der firmenübergreifenden Steuerung von Werteflüssen besteht grosses Potenzial. An diesem Punkt setzt das Konzept von Industrie 4.0 an. Es beschreibt eine Form der industriellen Wertschöpfung, welche durch Digitalisierung, Automatisierung und Vernetzung charakterisiert ist. Im Gegensatz zu früheren Ansätzen wie zum Beispiel CIM («computer integrated manufacturing») werden dabei potenziell alle Akteure der Wertschöpfungskette einbezogen. Das Konzept von Industrie 4.0 hat somit Auswirkung auf Prozesse, Produkte und Services sowie ganze Geschäftsmodelle. Bekannt und oft zitiert sind u.a. neue Modelle für Wartung und Unterhalt wie zum Beispiel vorausschauende Wartung oder auch Nutzungs-abhängige Verrechnung oder Sharing-Modelle.

Hinter der Entwicklung von Industrie 4.0 stehen technologische Treiber wie die kostengünstige und breite Verfügbarkeit von Konnektivität auf Basis des Internets der Dinge, von Sensoren und Aktoren, von fortgeschrittener Analytik, von Robotik oder auch von neuen Fertigungstechnologien wie z.B. 3D-Druck.

Dank Service-Orientierung zu Business-Erfolg

Vor dem Hintergrund dieser vielversprechenden technologischen Innovationen kommt der Fokus auf den betriebswirtschaftlichen Nutzen oft zu kurz. Dieser muss konsequent an den Anwendern und Kunden ausgerichtet sein und Wert für deren Geschäftsprozesse generieren. Eine erfolgreiche Umsetzung von Industrie 4.0 Konzepten muss ausgehend vom Geschäftsnutzen aus konzipiert sein und dabei gleichzeitig die Potenziale der neuen Technologien nutzen.

Mit der Theorie der Dienstleistungsentwicklung stehen uns seit einigen Jahren effektive und bewährte Instrumente zur Verfügung für das Design und Engineering von Anwender-zentrierten Services. Die Service-Dominant Logic (SDL) ist eine Service-zentrierte Alternative für die Beschreibung betriebswirtschaftlicher Werterzeugung [1]. Das zentrale Konzept dabei ist die Schaffung von Nutzwert durch den Kunden zusammen mit dem Anbieter (Stichwort «Co-Creation»). Damit verschiebt sich konzeptionell der Fokus der Werterzeugung aus der Fabrik heraus an die Schnittstelle zwischen Kunden und Anbietern. Die Kunden tragen zur Wertschöpfung und insbesondere zur Qualität des Services massgeblich bei.

Produkte sind als Träger und Übermittler der Service-Werte nach wie vor von grosser Bedeutung, müssen sich aber an diesen Werten ausrichten. Um den Graben zwischen Produkt und Service zu überbrücken, sind neue Instrumente und Lösungsansätze erforderlich. In der praktischen Arbeit hat sich das Konzept des Value Proposition Designs bewährt für die Entwicklung von Services, welche konsequent auf die Kunden ausgerichtet sind [2]. Die Situation der Kunden wird dabei in den Dimensionen Kundenaufgaben («Jobs»), Kundenprobleme («Pains») und Kundengewinne («Gains») erfasst. Bei der Umsetzung von Service-Design-basierten Projekten ist eine iterative Vorgehensweise in enger Co-Creation mit den Kunden angebracht: mit schnellen Prototypen («rapid service prototyping») kann sehr rasch und kostengünstig gelernt werden, ob man die Jobs, Pains und Gains der Kunden richtig verstanden hat. Scheitern und daraus Lernen ist dabei fixer Bestandteil des Entwicklungsweges. Der Kunde ist stets als Partner involviert und trägt zur Entwicklung bei. Auch im industriellen Bereich empfiehlt es sich, neue Services gezielt in enger Partnerschaft zuerst mit ausgewählten Kunden iterativ zu entwickeln, zu testen und zu verbessern, bevor man sie kommerziell an den Markt bringt.

Neue Modelle für industrielle Services

Mit dieser Perspektive ist Service nicht mehr lediglich eine Ergänzung von Produkten im After-Sales-Bereich, sondern wird zum zentralen Element der Wertschöpfung. Herkömmliche industrielle Service-Leistungen wie Inbetriebnahme, Wartung, Reparatur oder Ersatzteillieferung werden ergänzt um neue Service-Modelle wie z.B. Beratung entlang der ganzen Kundenerlebniskette, Individualisierung, Zustandsüberwachung, vorausschauende Wartung oder Leistungsoptimierung. In den herkömmlichen Modellen wird den Kunden die erbrachte Leistung versprochen (z.B. eine Anzahl Vor-Ort-Einsätze, eine Anzahl Wartungsstunden oder eine Anzahl Ersatzteile) und nach Kosten-basierten Ansätzen verrechnet.

Mit den neuen Modellen erfolgt der Übergang zu sogenannten Output-basierten Services3. Den Kunden wird die erzielte Leistung garantiert und verrechnet. Im Einklang mit der Service-Dominant Logic geht es darum, den Kunden für ihre Geschäftsprozesse einen bestimmten Nutzwert zu erbringen. Für die Anbieter entstehen dadurch interessante neue Möglichkeiten, durch kontinuierliche Service-Co-Creation mit den Kunden die Loyalität und die gegenseitige Bindung zu festigen und somit letztendlich die Wertschöpfung für alle Beteiligten zu optimieren. Der Preis dafür sind erhöhte Komplexität und erhöhte Anforderungen an Know How, Prozesse und Organisation. Besondere Aufmerksamkeit muss dem Thema der Datenanalyse gewidmet werden. Wenn die Anbieter für die erzielten Ergebnisse statt für den erbrachten Aufwand vergütet werden, übernehmen sie einen grossen Teil des operativen Risikos. Sie müssen genau berechnen können, zu welchem Preis sie den versprochenen Output kostendeckend oder mit Gewinnmarge erbringen können. Dabei ist die Kalkulation der operativen Risiken von zentraler Bedeutung. Betriebsdaten müssen bei den Kunden erhoben und durch die Anbieter analysiert werden. Dazu sind oft neue Infrastrukturen für die Messung, Übertragung und Analyse dieser betrieblichen Daten erforderlich (Sensoren, Cloud, Advanced Analytics). Damit einher gehen auch erhöhte Anforderungen an das betriebliche Veränderungsmanagement für die Gestaltung des Wandels (Risiken und Bedenken in Bezug auf Datensicherheit, Privatsphäre, neue Skillsanforderungen etc.).

 

 

Von Wertschöpfungsketten zu neuen Service-Ecosystemen

Bei dieser Vorgehensweise zur Entwicklung von Services gelangt man typischerweise zum Punkt, dass man als einzelnes Unternehmen Partnerschaften eingehen muss, um die Jobs, Pains und Gains der Anwender bzw. Kunden entlang der Customer Journey umfassend abdecken zu können. Dadurch werden lineare Wertschöpfungsketten aufgebrochen und es entstehen sogenannte Service-Ecosysteme, in denen die Akteure über Cloud-Verbindungen Service-Werte austauschen. Die Co-Creation zur Entwicklung von Services erfolgt dann gemeinsam durch mehrere Akteure eines solchen Ecosystems.

In der Schweiz wurde 2017 die «Swiss Alliance for Data-Intensive Services» (kurz: «Data+Service Alliance») ins Leben gerufen, ein Netzwerk für innovative Unternehmen, akademische Institute und Einzelpersonen mit Fokus auf Daten-getriebene Wertschöpfung [4]. Ein wichtiger Teil der Aktivität ist der Betrieb von aktuell acht Expertengruppen, welche ein breites Themenspektrum von Technologien wie «Machine Learning» über Businessthemen wie «Smart Service» oder «Business Models» bis hin zu «Data Ethics» abdecken. Die «Data+Service Alliance» bildet durch ihren breit abgestützten Mitgliederspiegel und ihre konsequente Ausrichtung auf die Kompetenzgebiete Daten und Service eine Plattform, auf deren Grundlage neue Services und insbesondere neue Service-Ecosysteme entwickelt werden. Mit dem Know-how und dem Engagement der Wirtschaft und Hochschulen verfügt das Netzwerk über eine hervorragende Ausgangslage, um die Digitalisierung und das Thema Industrie 4.0 erfolgreich zu gestalten und ist heute die grösste Innovationsplattform der Schweiz in diesem Gebiet.

 

Zum Autor:

Jürg Meierhofer

Dr. sc. techn. ETH, Executive MBA iimt

Die Optimierung und Gestaltung von Smart Services bilden den roten Faden durch seine Tätigkeiten in diversen Branchen. Er unterrichtet und forscht an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), ist Koordinator der ZHAW Plattform Industrie 4.0 und Leiter der Gruppe «Smart Services» der Data+Service Alliance.

 

 

Referenzen

  1. Lusch, F.L., Vargo, S.L.: Service-Dominant Logic. Cambridge University Press, Cambridge (2014)
  2. Osterwalder, A., Pigneur, Y., Bernarda, G., Smith, A.: Value Proposition Design: How to Create Products and Services Customers Want. John Wiley & Sons, Hoboken, New Jersey (2014)
  3. Kowalkowski, C, Ulaga, W: Service Strategy in Action: A Practical Guide for Growing Your B2B Service and Solution Business, Service Strategy Press (2017).
  4. https://www.data-service-alliance.ch