Industrieunternehmen und Softwareschmiede unter einem Dach

06.03.2020
6 Min.
Mittelständische produzierende Betriebe, die dank qualitativ hochstehenden Produkten auf ihrem Spezialgebiet Weltmarktführer sind – in kaum einem anderen Land der Welt gibt es davon so viele wie in der Schweiz. Das klassische Geschäftsmodell vieler dieser Hidden Champions ändert sich jedoch. Schliesslich steht mit der Digitalisierung ein grosser Wandel an, der die Fertigung komplett digitalisieren und zu einem über die Cloud gesteuerten «Internet der Dinge» (IoT) vernetzen wird.
 
Bislang laufen die Vorbereitungen auf die Smart Factory von Morgen bei den Schweizer KMUs jedoch noch schleppend. Ein Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz (www.kmu-transformation.ch) zeigte, dass gerade kleine und mittlere Unternehmen in Sachen Digitalisierung Aufholbedarf haben. Zwar erachten 73 % der Schweizer KMU die digitale Transformation als relevant und 63 % haben bereits eine Digitalisierungsstrategie erarbeitet bzw. neue Technologien eingeführt. Doch nur 30 % der befragten KMU sind mit dem bisherigen Veränderungsprozess zufrieden. Als grösste Hindernisse nannten die Befragten den hohen Zeitaufwand sowie mangelndes Know-how bei Führungskräften und Mitarbeitenden. Im Industriesektor könnten KMU, die sich für die Industrie 4.0 fit machen wollen, aufgrund dessen den Anschluss verlieren.
 
 

Digitalisierung als Wachstumstreiber

Auch international zeigt sich, dass die Digitalisierung nicht nur für die Strategie einzelner Untenehmen, sondern ganzer Länder zentral ist. So etwa in China, wo die Verschmelzung von Hard- und Software ein wichtiger Wachstumstreiber für die chinesische Wirtschaft werden soll. Chinas Regierung hat vor drei Jahren in ihrem Strategiepapier «Made in China 2025» (MIC 2025) unter anderem die Vision skizziert, im Bereich der computergesteuerten Maschinen zum weltweit führenden Anbieter zu werden. Bereits heute verstehen sich Unternehmen aus China längst nicht mehr nur als Produktions-Outsourcer, sondern bringen eine Menge eigenes Know-how in immer innovativere Produkte ein. Sie zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass Software und Engineering perfekt zueinanderpassen.
 
Verstärkter Wettbewerb droht dem klassischen Industrie-Mittelstand folglich vor allem jenseits der eigenen Ingenieurskunst. Es gibt mittlerweile eine Menge innovativer Start-ups, die mit ihren Angeboten versuchen, den Anwendern einer Maschine oder eines Geräts zusätzlichen Mehrwert zu liefern. Sensoren, die Maschinen und Produkte im Internet der Dinge verbinden, sind dabei nur der Anfang. Angesichts von Cloud-Angeboten, dank derer es sich zu geringen Kosten experimentieren und entwickeln lässt, sind heute viele Geschäftsmodelle denkbar, bei denen ein Grossteil der Wertschöpfung beim Softwareentwickler landet und das produzierende Gewerbe hauptsächlich als Manufacturing-as-a-Service-Dienstleister fungiert.
 
 

Daten gewinnen an Bedetuung

Industrieunternehmen sind deshalb gut beraten, sich in diesem Bereich eigene Kompetenzen anzueignen und das Kerngeschäft um digitale Services zu erweitern. Dabei könnten sich klassische Fertigungsbetriebe vor allem dann in der neuen Welt der Industrie 4.0 behaupten, wenn sie sich mehr mit der Analyse und der Verwendung von Daten beschäftigen. Für die moderne Fabrik kann das beispielsweise bedeuten, dass der Shop-Floor noch enger mit Informationen aus Warenwirtschaft und Logistik verknüpft wird oder eigene Hardware-Produkte um SaaS-Dienste, wie zum Beispiel die automatisierte Wartung ergänzt werden.
 
Ein Blick auf das international tätige Technologieunternehmen SKF zeigt, wohin die Reise gehen kann: Der Hersteller von Kugellagern ist in über 130 Ländern in rund 40 Industriesegmenten tätig. Das Unternehmen hat sein Kugellager-Angebot jüngst um Smart Services aus der Cloud ergänzt und mit Hilfe von IoT-Sensorik, fortgeschrittener Analysemethoden aus der Cloud und maschinellem Lernen den Wartungsprozess ihrer Produkte digitalisiert. Dank dieser Verbindung verzeichnet SKF heute einen deutlich geringeren Ressourcenverbrauch für Wartungsarbeiten, was wiederum erhebliche finanzielle Einsparungen zur Folge hat.
 
Diesen Wandel fasste General Electric CEO Jeffrey Immelt einmal folgendermassen zusammen: «Noch letzte Nacht seid ihr als Industrieunternehmen schlafen gegangen – und heute Morgen wacht ihr als Software- und Analytics-Unternehmen auf.» 
 
 

Neue Wege in der Cloud

Ein weiteres prominentes Beispiel dafür, wie mit Hilfe der Cloud komplett neue Geschäftsmodelle entstehen können, liefert das deutsche Unternehmen Kärcher. So ist der Hersteller von Reinigungsgeräten und -systemen mit dem IoT-basierten Service Kärcher Fleet in der Lage, sein Portfolio aus Reinigungslösungen um eine Dienstleistung zu erweitern. Dabei liefert das Unternehmen aktuelle Daten zu Wartungs- und Ladungszustand, Einsatzzeiten und Standort der Maschinen online an deren Nutzer. Davon profitieren vor allem Facility-Manager, die ihre Reinigungsflotte professionell betreuen und nun jederzeit auf wichtige Informationen zugreifen können. Dank der Cloud kann Kärcher nicht nur auf eine kostspielige eigene IT-Infrastruktur verzichten, sondern sich ganz auf die strategische Weiterentwicklung seiner Dienstleistungen konzentrieren. 
 
 

Bewährtes weiterentwickeln

Vor den Veränderungen rund um Industrie 4.0 muss sich die Schweizer Fertigungsindustrie nicht fürchten. Mit ihrem über Jahrzehnte gewachsenen Know-how ist sie auch im rauer werdenden Wettbewerb gut aufgestellt. Sie sollte sich jedoch noch intensiver mit der intelligenten Verknüpfung von Daten und Anwendungen beschäftigen, um ihre Kunden nicht nur durch erstklassige Produkte, sondern auch mit Hilfe von innovativen Dienstleistungen begeistern zu können.
 
Dass IT und Fertigung gar nicht so weit voneinander liegen müssen zeigt auch das Buch «Projekt Phoenix» von Gene Kim und Kevin Behr (ISBN 978-3-95875-175-0, auch als E-Book erhältlich). Der Roman erzählt die Geschichte des IT-Managers Bill. Er muss angesichts schrumpfender Budgets und eines drohenden Outsourcings seines Bereiches neue Wege finden, seinen Fachbereichen grösseren Mehrwert aus der IT zu bieten. Veteranen der Fertigungs-Industrie werden das Schema des Buches vielleicht wiedererkennen: Mit «Das Ziel: Ein Roman über Prozessoptimierung» (ISBN 978-3-593-39853-2) schrieb Eliyahu Goldratt in den 80er Jahren schon die Grundlagen der modernen Fertigungs-Optimierung. Tatsächlich gehorchen moderne DevOps-Methoden den gleichen Prinzipien wie aktuelle Methoden der Kapazitätsplanung in der Fertigungs-Industrie. Mithilfe von Cloud und DevOps wächst also endlich zusammen, was zusammengehört: Industrie und Digitalisierung.


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Der Autor

Constantin Gonzalez arbeitet als Principal Solutions Architect bei Amazon Web Services (AWS) in München. Seit mehr als 20 Jahren beschäftigt er sich mit verschiedenen Technologien wie CPU- und Systemarchitektur, Storage, Betriebssystemen, High Performance Computing, Webtechnologien, Cloud Computing, Microservices-Architekturen, IoT und maschinellem Lernen.