Business Anwendungen mit modernen Benutzeroberflächen reichen heute nicht aus, um alle Kunden, Mitarbeiter und Partner zufrieden zu stellen. Wichtig für die optimale «User Experience» sind Lösungen, die den Nutzungskontext über alle Systeme, Geräte und Kontaktpunkte berücksichtigen und auf die spezifischen Benutzerrollen eingehen.

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Was nützen die schönste Mobile App, das beste Kundenportal und die modernste Business Anwendung, wenn der Mehrwert für den Kunden fehlt und die Mitarbeiter in ihren Tätigkeiten nicht optimal unterstützt werden? Es lohnt sich, die einzelnen Benutzergruppen und deren Ziele zu hinterfragen. Ein Erfolgsfaktor für gelungene Benutzererlebnisse besteht darin, relevante Mehrwerte zu schaffen und gleichzeitig Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Vergleichbar mit einer Waage, stehen auf der einen Seite Anreiz, Motivation und Kundenmehrwert und auf der anderen Seite Bedenken, Hindernisse und Stolpersteine. Überwiegt der zweite Teil, wird das Projekt scheitern, weil die Akzeptanz von Kunden oder Mitarbeitern fehlt.

Relevante Kundenmehrwerte zu entwickeln bedeutet mehr als nur Brainstorming. In enger Zusammenarbeit mit Kunden, Mitarbeitern und Partnern werden Ideen evaluiert, Hypothesen formuliert und anhand aktueller «Design Thinking»-Methoden und «Proof of Concept»-Phasen überprüft. Dabei fliessen strategische Aspekte, Trends und Marktinformationen ein. Oft kommen moderierte Fokusgruppen zur Erhebung von Anforderungen und Potentialen hinzu.

User Journeys und Nutzungskontext der Anwendung

Sind die Kundenbedürfnisse, die kritischen Prozesse und die Business-Anforderungen definiert, geht es an das Modellieren der optimalen User Journey der wichtigsten Zielgruppen. Dabei muss der Nutzungskontext der Anwendung berücksichtigt werden. Darunter versteht man einerseits die Haltung, z.B. auf dem Sofa liegend (lean-back) oder am Tisch sitzend (lean-forward), die Situation z.B. mobil oder stationär, online oder offline und auch das Umfeld z.B. privat, öffentlich, geschäftlich, beim Einkaufen usw. Dabei spielen die verwendeten Geräte wie Laptop, Tablet oder Smartphone eine wichtige Rolle. Dazu ein Beispiel der SBB: Ein Kunde verbringt im Schnitt 63 Minuten pro Tag im SBB-Umfeld und generiert dabei über 40 Kontaktpunkte – dabei wechselt er vom PC zum Smartphone und ist vor, während und nach der Reise auf Informationen und Dienste angewiesen.

Proof of Concept: Mit 800 Testkunden, vier Anbietern und vier Standorten an Bahnhöfen validierte die SBB Hypothesen zum Thema mobiles Bezahlen und Loyality.

Auch im Business-Bereich wird längst nicht mehr nur stationär am Desktop Computer gearbeitet. Verkaufsmitarbeiter sind mobil per Smartphone und Tablet unterwegs, Servicetechniker mit Laptops auch bei Kunden ohne Internetverbindung im Einsatz und Milliarden von Geräten und Sensoren liefern Echtzeitdaten aus allen erdenklichen Quellen. Hier gilt es, den Überblick zu behalten und zu verstehen, wie sich Kunden und Mitarbeiter digital über alle Kontaktpunkte mit dem Unternehmen bewegen. Im Fokus stehen dabei präzise, aussagekräftige Beschreibungen der typischen Benutzer, deren Motivation und Ziele, welche in «Personas» festgehalten werden. Anhand narrativer Beschreibungen der wichtigsten Aufgaben werden User Journeys über alle Kontaktpunkte erstellt und visualisiert. Um die Bedürfnisse und den Nutzungskontext besser zu verstehen, besuchen UX–Experten die Anwender auch vor Ort und verschaffen sich durch Befragungen und Beobachtungen ein detailliertes Bild.

Befragungen und Beobachtungen der Zielgruppe

Eine bewährte Methode ist das «Job Shadowing», bei dem es sich um eine begleitende Beobachtung der Benutzer bei der Arbeit handelt. Bei der «Think Aloud»-Methode müssen die Mitarbeiter typische Aufgaben live am System demonstrieren und dabei laut sprechen, was sie gerade denken. Dies alles wird gefilmt und von UX–Experten beobachtet. Die Erfahrung zeigt, dass bereits mit geringem Aufwand von ca. 5 – 7 einstündigen Beobachtungen und Interviews über 80% der kritischen Problempunkte und Hindernisse erkannt werden. Ein weiterer Vorteil dieser Methoden ist die Kommunikation für alle Stakeholder im Unternehmen. Das aufbereitete Videomaterial mit dem O-Ton der Benutzer hat schon manchem Entscheidungsträger die Augen geöffnet und Verbesserungspotential aufgezeigt. Mit universellen, anerkannten Usability-Kriterien werden in «Expert Reviews» konkrete oder geplante Anwendungen analysiert. Dabei kommen moderne Usability-Heuristiken und Research-Ansätze sowie Best Practices-Methoden aus dem User Centred Design-Umfeld zur Anwendung. Das Resultat ist typischerweise eine Liste von aktuellen Problemen und konkreten Verbesserungsvorschlägen.

Kontinuierliche Exploration, Prototyping und Validierung

«Es gibt nichts Gutes ausser man tut es» formulierte Erich Kästner die Notwendigkeit des Handelns. Lieber früh starten, sich auf den Weg machen und dabei lernen, was funktioniert und was nicht. Bezogen auf die User Experience heisst dies: Kontinuierlich neue Ideen ausprobieren und möglichst früh mit den Benutzern testen. Dabei reichen bereits einfache Prototypen und Click-Dummies, um konkrete Ideen zu validieren. Gleichzeitig werden dadurch von Projektbeginn an die wichtigen Stakeholder aus Management, Business und IT in den Entstehungsprozess involviert.


Integrierter User Experience Design und Entwicklungsprozess

Verbindung von UX-Design und Entwicklungsprozess

Über 58% der Schweizer Unternehmen entwickeln ihre Softwareprojekte vorwiegend agil. Methoden wie Scrum und Kanban sind auf dem Vormarsch. Ausserhalb der Softwareentwicklung ist Agilität höchstens noch im Projekt-, Produkt- und Releasemanagement ein Thema. Entsprechend schwer tun sich viele IT-Organisationen in der übergreifenden Zusammenarbeit. Ein gutes Kundenerlebnis kann man jedoch nur durch die Abstimmung aller Bereiche erreichen. Ein interdisziplinäres Team benötigt heute nebst Requirement Engineers, IT–Architekten, Entwicklern und Testpersonen auch Designer und UX–Experten. Dabei wird oft vergessen, dass ein reiner Designer kein UX–Experte ist. Ein herkömmlicher Visual- oder Interaction-Designer deckt bei weitem nicht den Bereich eines UX–Experten ab, sondern gestaltet im besten Fall eine einfach zu bedienende Benutzeroberfläche.

Mittlerweile stehen unzählige Tools für die Erfassung, Visualisierung und Messung von Kundenbedürfnissen zur Verfügung. Speziell im Bereich Prototyping, Design und Frontend–Entwicklung geht der Trend hin zu einem voll integrierten Design– und Entwicklungsprozess. Dabei erstellt der UX–Experte einen ersten Prototyp und kann diesen direkt online zugänglich machen, sowohl für Desktop– wie auch Mobil–Applikationen. Teams können diese interaktiven Prototypen zusammen durchgehen und kommentieren. Auch Validierungen mit Endkunden können gleich online durchgeführt und dokumentiert werden. Das finale Design wird dann durch den Visual– oder Interaction-Designer in Tools wie Sketch erstellt und über Zeplin oder InVision den Frontend–Entwicklern zur Verfügung gestellt. Dabei können die Entwickler direkt auf CSS Code zugreifen der automatisch generiert wurde.

Nahtlose Integration von Design- und Entwicklungstools am Beispiel von Sketch und Zeplin

Agile Entwicklung und User Experience

Eine optimale User Experience ist keine einmalige Sache. Die Arbeit ist durch die Erstellung von UX–Guidlines und Visual Design nicht getan, User Experience ist ein voll integrierter Bestandteil im Entwicklungsprozess. UX-Experten begleiten Unternehmen intensiv von der Idee bis zum Go–Live eines Projekts oder Produkts. Dabei arbeiten sie in agilen Teams und stellen sicher, dass die Benutzerbedürfnisse konstant gemessen werden und in die Entwicklung einfliessen. Erfahrene UX–Experten kennen sich aus im Spannungsfeld zwischen Kunden, Benutzer und Entwicklung und wissen, wie man interdisziplinäre Teams auf ein gemeinsames Ziel ausrichtet.

Gute Designer arbeiten heute mit wiederverwendbaren Komponenten. Gerade in grösseren Unternehmen mit vielen Anwendungen oder bei komplexeren Webportalen, werden zunehmend Design-Systeme und UI-Frameworks eingesetzt, die auf Komponenten basieren. Nebst der Wiederverwendbarkeit fördert dies auch das Benutzererlebnis, weil dem Benutzer bereits bekannte Funktionen in allen Anwendungen des Unternehmens gleich implementiert werden wie z.B. Login, Formulare, Menus, Navigation, Listen und Volltextsuche.

Gutes Design und Emotionen

Entscheidend für den ersten Eindruck einer Anwendung ist nach wie vor das visuelle Design. Es trägt massgeblich zur positiven User Experience bei. Benutzer schätzen ansprechende und stimmige Anwendungen, wollen die wichtigsten Informationen auf einen Blick sehen, Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden können und eine intuitive, stringente Navigation. Bereits kleine Dinge können beeindrucken. Im Falle einer Business-Anwendung für eine Versicherungsgesellschaft wurde eine kundenspezifische, interaktive Grafik entwickelt, welche den Key Account-Managern auf einen Blick zeigt, welche Produkte beim Kunden in der Pipeline oder im Portfolio sind bzw. wo es noch Potential hat. Dies stimmte die Benutzer vom Start weg positiv und half entscheidend bei der Einführung der neuen, eher funktional und trocken anmutenden Lösung. Sogar das Logo der neuen Anwendung wurde durch diese Grafik inspiriert; dieses wird mittlerweile weltweit in der gesamten Projektkommunikation, den Trainingsunterlagen und im Intranet verwendet.

Einen Schritt weiter gehen Start-Ups wie MailChimp, ein Anbieter von webbasierter Newsletter-Software. Bereits der kleine Affe im Logo macht das Produkt sympathisch und widerspiegelt die persönliche, erfrischende Kommunikation der gesamten Applikation.

Einwänden und Kritikern begegnen

Gerade im Bereich von Business-Anwendung ist das Thema User Experience noch neu. Die Projektbeteiligten sind primär mit den Business-Anforderungen und Funktionalitäten beschäftigt. User Experience wird mit Interface Design gleichgesetzt. Wenn dann doch ein UX–Experte involviert wird, nehmen ihn die Entwickler anfänglich als Störfaktor wahr. Kommentare wie «Das haben wir schon immer erfolgreich so gemacht» oder «Das ist doch nur die individuelle Meinung eines Kunden, der eh keine Ahnung hat» bis zu «Wir sind schliesslich Marktführer XY und wissen was User Experience ist» sind keine Seltenheit. Um solchen Einwänden und Kritiker zu begegnen benötigt man Fingerspitzengefühl und Verständnis für die jeweiligen Bedürfnisse. Im Projektverlauf zeigt sich oft, dass auch die Entwickler oder Implementationspartner klare Anforderungen und gut validierte Mock-Ups als Basis schätzen.

Was kommt als nächstes – die Trends

Bereits heute sind längst nicht alle Business-Anwendungen und Softwareanbieter auf dem aktuellsten Stand hinsichtlich User Experience. Gerade im ERP–Bereich gibt es noch monolithische Dinosaurier mit uralten Benutzerschnittstellen. Doch die Entwicklung schreitet immer schneller voran. Es entstehen neue, sehr unterschiedliche Kontaktpunkte und Interfaces. Dazu gehören «Conversational Interfaces», die sich an Chat-Apps wie WhatsUp und WeChat anlehnen und durch intelligente Chat-Bots den Kundendienst unterstützen oder kommerzielle Angebote platzieren.

Dann wären aber auch Sprach-Interfaces wie Amazon Alexa, Google Home oder Siri zu nennen, in Form von intelligenten Lautsprechern im Wohnzimmer oder als Assistenten beim Autofahren. Selbst totgesagte Technologien wie Augmented Reality (AR) erleben gerade einen zweiten Frühling, diesmal mit Anwendungen für Servicetechniker und als interaktive Bedienungs- und Reparaturanleitungen. Maschinen melden in Zukunft automatisch Probleme dem Service Center und das Verbrauchsmaterial wird bei Bedarf direkt nachbestellt.

Augmented Reality App zur Unterstützung der Monteure beim Küchenbau (Quelle: blum)

 

Diese neuen Technologien und Interfaces fordern Unternehmen und UX–Experten zusätzlich. Gilt es doch, die neuen Trends zu testen und zu bewerten. Vieles mag Spielerei sein, anderes wird ganze Branchen durchschütteln und verändern. User Experience wird zukünftig noch umfassender und gesamtheitlicher angeschaut werden müssen. Statt monolithischen Business-Anwendungen sind offene Service-Architekturen gefragt, die sich flexibel an neue Interfaces und Kundenbedürfnisse anpassen.

10 UX-Tipps für erfolgreiche Benutzererlebnisse mit Business-Anwendungen

  1. Erst die Bedürfnisse, Mehrwerte und Bedenken aller Benutzergruppen erfassen
  2. Alle Stakeholder wie Mitarbeiter, Management, Kunde und Partner von Anfang an involvieren
  3. Früh mit Prototypen arbeiten, um Ideen und Lösungsansätze bei den Zielgruppen zu validieren
  4. User Experience nahtlos in die Entwicklung integrieren und interdisziplinäre Teams bilden
  5. Möglichst iterativ und agil zum Ziel, dabei stetig Feedback der Benutzer einholen
  6. Design– und Entwicklungsprozess integrieren und entsprechende Tools einsetzen
  7. Design-Systeme mit wiederverwendbaren Komponenten sind effizient und schaffen zugleich ein einheitliches Benutzererlebnis – auch über mehrere Business Anwendungen hinweg
  8. Auf ansprechendes Visual Design achten und positive Emotionen beim Benutzer wecken
  9. Jedoch: Nicht alles was schön aussieht, ist zwingend auch gut bedienbar
  10. Fokus auf den Benutzer legen und Empathie für seine Bedürfnisse aufbringen

 

Zum Autor

Christoph B. Bochsler, Managing Partner Cando

Über Cando

Cando ist eine Schweizer UX Agentur und Pionier im Bereich User Experience für Business Anwendungen. Als unabhängiger und neutraler Partner unterstützt Cando Unternehmen, Start-Ups und Anbieter bei der Ideenfindung und Innovationen, entwickelt neuartige Applikationen oder optimiert bestehende Business Anwendungen hinsichtlich der User Experience.

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