Mit AI-First Ansatz zu sinnvollerer E-Commerce Automation

02.04.2024
5 Min.

In der Welt des E-Commerce verdunkeln die digitalen Schaufenster nie und die virtuellen Regale scheinen unendlich zu sein. In diesem fast schon grenzenlosen Markt entscheiden Sekunden über Erfolg oder Misserfolg. Die Revolution hier heisst «Automatisierung». Was es mit dem Zauberwort gerade im Bereich E-Commerce auf sich hat und weshalb Automation erst der Anfang ist, erklärt E-Commerce Spezialist Nicolas Jene.

 

(Symbolbild generiert mit AdobeFirefly)

 

Was kommt Ihnen in den Sinn beim Stichwort «autonomes Fahren»? Den einen sicherlich führerlose Autos, die ohne menschliche Interaktion selbständig von A nach B fahren. Den anderen vielleicht die Unternehmung Tesla, die bereits seit einigen Jahren eine hohe Anzahl von intelligenten, software-gesteuerten Funktionen in ihre Autos integriert, um irgendwann in der Zukunft das vollautonome Fahren zu ermöglichen.

Elon Musk ist für seine «Backward Reasoning»-Denkweise (vom Ende her denken) bekannt. Und so sind die aktuell verfügbaren Assistenz- und Automatisierungs-Systeme nicht mehr als Mittel zum Zweck, sondern eher die ersten Meilensteine auf dem Weg hin zu neuen Business-Modellen und anderen Ideen, die bei aktueller Betrachtung der Autos von Teslas oder der bereits verfügbaren Funktionen (noch) gar nicht auffallen.

Genau dieser Punkt wird im aktuellen Hype um Automatisierung und Verwendung von KI-Tools derzeit zu wenig Beachtung geschenkt. Die Plug-N-Play Nutzung von ChatGPT ist für ein erstes Kennenlernen gut und ein Produktivitätszuwachs von sagen wir bis zu 20 Prozent durchaus realistisch. Chat-Bot-Integrationen (siehe Jumbot von Jumbo oder auch der neue Bot von Brack) sind erste Versuche, Rund-um-die Uhr Produkt- und Service-Beratung in E-Commerce Systemen zu integrieren. Das ist durchaus sinnvoll und für Lernzwecke gut geeignet, aber es steckt noch sehr viel menschliches Handeln hinter all diesen Prozessen. 

 

Die Stufen der Automatisierung bis hin zur Autonomie

Die Idee des autonomen Fahrens ist schon recht alt und hat ihre Wurzeln bereits im frühen 20. Jahrhundert. Und die deutsche Automobilindustrie hat schon in den 1990er Jahren die Grundlage für die heutigen Systeme des autonomen Fahrens gelegt. Das 5-Stufenmodell des autonomen Fahrens wurde von der Society of Automotive Engineers entwickelt und erstmals 2014 in fünf resp. sechs Stufen definiert. Die Stufen 0 (nicht automatisiert) bis Stufe 5 (vollautomatisiert resp. autonomes Fahren) definieren dabei die unterschiedlichen Grade der Automatisierung bis hin zur Autonomie. Erst ab Level 5 sprechen wir von wirklicher Autonomie oder besser gesagt, von einem System, welches die Fahraufgaben vollumfänglich selbst übernimmt und damit ganz von allein agieren kann.

In der Automobilindustrie sind wir derzeit maximal bei Level 3, welcher es dem Fahrer eines Autos erlaubt, für eine gewisse Zeit die Hände vom Steuer zu nehmen und das System resp. das Auto selbständig fahren zu lassen. Die Kontrolle liegt aber immer noch beim Menschen resp. den Fahrenden. Das Fahrzeug verhält sich als Co-Pilot und steuert gewisse Teilbereiche. 

 

Automatisierung vs. Autonomie im Bereich E-Commerce

Kommen wir wieder zurück zum E-Commerce: Automatisierung ist ein weitläufiger Begriff, der sich aber deutlich vom Begriff der Autonomie abgrenzen lässt. Unter Automatisierung verstehen wir vor allem die Möglichkeit, durch den Einsatz von Technologie Aufgaben und Prozesse zu automatisieren, das heisst ohne menschliche Interaktion ablaufen zu lassen. Im Kontext von E-Commerce und derzeit auf dem Markt erhältliche Software mit Automatisierungsfunktionen sind dies vor allem Aufgaben, die viel Zeit in Anspruch nehmen und schneller sowie effizienter von Software durchgeführt werden können.

Sogenannte «Flow Builder» resp. «Rule Builder» ermöglichen bei der E-Commerce Automatisation die Abbildung von Geschäftsprozessen, die individuell und dabei automatisiert auf die Bedürfnisse und jeweiligen Interaktionen in der Customer Journey eingehen. So können sehr einfach über Regeln spezifische Bereiche im Shop nur für bestimmte Kunden angezeigt werden. Oder das Pricing im Shop verändert sich dynamisch aufgrund bestimmter Bedingungen wie Kundenstandort, Wetter, Uhrzeit oder Wochentag. Das E-Commerce System wird zum Co-Piloten.

Autonomie geht noch einen Schritt weiter. Hier nimmt das System seine Umgebung wahr und trifft selbst Entscheidungen, dies aber unter Berücksichtigung von Zielen und entsprechenden 

Umständen, in denen das System agiert. Hier wird das E-Commerce System zum Co-Worker und steigert die Produktivität in stärkerem Ausmass. 

 

Die Level der Automation im Bereich E-Commerce

Von diesen regelbasierten Automationen bis hin zur Autonomie ist aber noch ein weiter Weg. Wenden wir das Modell des autonomen Fahrens auf den Bereich E-Commerce Automatisierung und Autonomie an, lässt sich Folgendes ableiten:

  • Level 0, keine Automation
    Spielt keine Relevanz bei Software. 
  • Level 1, einfache Automatisierung
    Grundlegende Automatisierungswerkzeuge unterstützen einfache Prozesse wie E-Mail-Versand und Lagerbestandsaktualisierungen. Es besteht keine Interaktion zwischen den Funktionen und viele Aufgaben werden manuell durch den E-Commerce-Manager gesteuert. 
  • Level 2, systemische Automatisierung
    Verschiedene Prozesse innerhalb des Systems arbeiten zusammen und tauschen Daten automatisch aus. Lagerbestandsanpassungen erfolgen ohne menschliches Eingreifen.
  • Level 3, gesteuerte Automatisierung (Co-Pilot)
    Es können Workflows und Prozesse definiert werden, die nach Konfiguration automatisch und ereignisgesteuert ablaufen. Anpassungen benötigen keine Code-Änderungen, und Prozesse sind umfassend parametrisierbar.
  • Level 4, intelligente Automation
    Künstliche Intelligenz wird eingesetzt, um Prozesse kontinuierlich zu überprüfen und aus Daten zu lernen. Vorhersagen und Selbstabstimmung der Prozesse untereinander oder systemübergreifend sind möglich. 
  • Level 5, selbstlernendes, autonomes System (Co-Worker)
    Das System optimiert und passt Prozesse in Echtzeit selbstständig an, ohne menschliches Eingreifen. Neuronale Netze ermöglichen kontinuierliches Lernen und Weiterentwicklung. Der Mensch spielt keine oder nur noch eine untergeordnete Rolle. Das System ist autark und selbststeuernd.

 

Das E-Commerce System verändert von Stufe zu Stufe zunehmend vom Co-Piloten zum Co-Worker. Um dies zu erreichen, ist aber der Denkansatz zu ändern. Womit wir wieder am Anfang dieses Artikels sind mit dem Backward-Reasoning.

 

AI-First Ansatz

Klingt fast schon paradiesisch, wenn sich die E-Commerce Automatisierung selbständig um die Produktdaten, die Produkt- suche, das Pricing oder auch um die entsprechenden Services und die Beratung des Kunden kümmert. Allein schnell etwas mit AI zu integrieren und auf den Markt zu bringen, damit man vorne mit dabei ist, mag eine kurzfristig zu erhöhter Medienaufmerksamkeit führen. Um wirklich mehr Produktivität durch (AI-)Automatisierung zu erreichen, müssen die Prozesse neu gedacht und vom Ende her aufgerollt werden. Unternehmen, seien es auch KMUs, sollten sich daher eine AI-First Strategie zu Nutze machen und diese strategisch in der Organisation verankern. Damit ist gewährleistet, dass alle Bereiche der Unternehmung AI-basierte Technologien, effizient, transparent und verantwortungsvoll eingesetzt werden können in Zukunft.

 

Marketing Automation vs. E-Commerce Automation

Wer mit E-Commerce zu tun hat, wird sich sicherlich die Frage gestellt haben, wo die Unterschiede zwischen Marketing und E-Commerce Automation liegen. Während Marketing Automation vor allem die Generierung, Pflege und Konvertierung von Leads betrachtet, stehen bei der E-Commerce Automation mehrheitlich die Optimierung der Verkaufsprozesse, die Aufbereitung von Produktdaten sowie die Bestellabwicklung (Fulfillment) im Vordergrund. Starke Berührungspunkte mit Marketing Automation gibt es vor allem im Bereich der Personalisierung.

E-Commerce Automatisierung fokussiert aber hier klar auf die Optimierung des Verkaufsprozesses.

 

 

Der Autor

Nicolas Jene ist Experte und Berater für E-Commerce, vor allem im Bereich Software-Plattformen. Sein Interesse gilt vor allem der holistischen Betrachtungsweise von Digital Commerce Lösungen. Neben der Technik spielt auch der Mensch eine entscheidende Rolle in der erfolgreichen Umsetzung von E-Commerce Systemen. Er ist ausserdem Inhaber der e-sphere GmbH mit Sitz in Wallisellen.

www.e-sphere.ch

Der Beitrag erschien im topsoft Fachmagazin 24-1

 

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